Es reicht!

Reinhard Loup

Das frage ich als ehemaliger Waldorfschüler, als Vater dreier ehemaliger Waldorfschülerinnen und nun als Großvater eines Waldorfschülers, auch angeregt durch die Leserbriefe in der Erziehungskunst dieses Jahres – von Markus von Schwanenflügel (1/2-2019), Dietmar Kasper (4/2019), Frank de Vries, Judith Forbrich (beide 5/2019) und Frank W. Grave (6/2019).

Ich blicke auf eine fast 60-jährige Erfahrung mit der Waldorfschule zurück. Nach meiner Einschulung 1950 in Rostock und mehreren Schulwechseln in NRW, kam ich endlich an eine Waldorfschule in Hamburg. Hier fühlte ich mich sofort angekommen und aufgenommen – hier war ich schulisch zu Hause. Es war weniger der Lehrstoff, sondern die gesamte Atmosphäre der Schule, auch die Art und Weise, wie unterrichtet und miteinander umgegangen wurde. Ich fühlte mich als Menschenkind angenommen und merkte, dass die starken und die schwachen Schüler gleichermaßen akzeptiert wurden. Nicht das Wissen war ausschlaggebend, sondern ich als Person!

Ähnliches erlebte ich bei meinen drei Töchtern, auch wenn sie unterschiedlich lange die Waldorfschule besuchten. Ich hatte immer das Gefühl, dass sie mit ihren Stärken und Schwächen angenommen und nach ihren eigenen Fähigkeiten und Bedürfnissen gefördert wurden, auch wenn sie unterschiedlich schnell lernten. Es wurde nie von Seiten der Schule die Frage gestellt, ob sie vielleicht auf einer anderen Schule besonders gefördert werden könnten. Mein Bild der Waldorfschule als zwölfklassige Gesamtschule wurde bis dahin nicht in Frage gestellt. Das war vor etwa 20 Jahren!

Heute, zum 100. Bestehen der Waldorfschulen, erhält mein Bild der Waldorfschule einige empfindliche Risse, die durch den Umgang der Lehrerinnen und Lehrer mit den Lernfähigkeiten meines Enkels (und denen anderer Kinder in der Klasse) entstanden sind. Da wird der schulpsychologische Dienst zur Begutachtung eingeschaltet, da wird der Vorschlag gemacht, doch die Schule zu wechseln, da andere Eltern, wenn sich die Lehrer auf schwächere Schüler zu sehr konzentrieren müssten, ihre Kinder abmelden würden, denn die langsameren Schüler würden den Fortgang des Unterrichts stören.

In Gesprächen klingt auch an, dass man es bedauere, diese Kinder mit ihren Schwierigkeiten nicht angemessen fördern zu können. Auch meinen die Lehrerinnen und Lehrer, dass sie es nicht verantworten könnten, wenn Kinder zu Beginn der Mittelstufe bzw. Oberstufe nicht bestimmte Fähigkeiten und Wisseninhalte verinnerlicht hätten, da die Mittelstufen- bzw. Oberstufenlehrer sich wegen der Abitursvorbereitung nicht mehr individuell auf langsamere Kinder einstellen könnten. – Ja, wo sind wir denn? Seit wann ist die Waldorfschule eine Klientel-Schule oder ein Gymnasium? Wo bleibt der Aufschrei?

Natürlich befinden sich die Waldorfschulen in einem ständigen Wandel, sie müssen sich den Veränderungen der Gesellschaft anpassen. Nur, zu welchem Preis und in welchem Maße? Es kann, es darf doch nicht sein, dass wichtige grundlegende Elemente der Waldorfpädagogik zu Gunsten eines wie auch immer gearteten Mainstreams aufgegeben werden, um sich die pädagogische Arbeit zu erleichtern! Dann wird die Waldorfschule beliebig und geht unter im pädagogischen Allerlei und verschwindet so in Wirklichkeit doch, wie fast alle anderen Strömungen aus der Zeit der Reformpädagogik. Wo bleiben die Eltern, die um die Ursprünge der Waldorfpädagogik wissen, die sich mit ihr auseinandergesetzt haben? Wo sind die Lehrer, die um die Anthroposophie wissen, die Rudolf Steiners Menschenbild verinnerlicht haben?

Ich hoffe, dass ich mit meinen Gedanken den ein oder anderen Lehrer, die eine Mutter oder den anderen Vater dazu bewegen kann, sich mit der Weiterentwicklung der Waldorfpädagogik unter Besinnung auf ihre Wurzeln zu beschäftigen und nicht tatenlos zuzuschauen, wie die Waldorfschulen zu – mit etwas zusätzlicher Kunst gelifteten – Gymnasien für eine bestimmte Klientel werden.

Zum Autor: Reinhard Loup ist Kinder- und Jugendpsychotherapeut in eigener Praxis in Berlin.