Eurythmie – eine Liebeserklärung

Ute Hallaschka

Als erstes soll gesagt sein: Liebe Eurythmie, Du kannst nichts dafür, dass Du mit so vielen Klischees von Leuten behängt wirst, die Dich gar nicht kennen. Aber als zweites muss gefragt werden: Woran liegt das denn, es muss doch einen Grund dafür geben? Also machen wir uns nichts vor und geben zu: Du wirst nicht immer geliebt, sogar an Waldorfschulen oft eher geduldet aus Respekt vor den Ideen Rudolf Steiners. Mathematik wird auch eher selten aus vollem Herzen geliebt, aber Mathematik ist wichtig, das weiß jeder. Ohne Mathe geht’s nicht, also muss das irgendwie gehen, reingehen in den Kopf. Eurythmie dagegen? »Muss nicht sein«. Nur: Eurythmie kann gar nicht sein – ohne Liebe zu ihr. Sie ist Kunst, wie soll das – aus der Haltung von Abwehr und Widerstand – gehen?

Laut Karl Valentin ist Kunst schön, macht aber viel Arbeit. Im Fall der Eurythmie hat die Arbeit Hand und Fuß, ihr Arbeitsplatz ist die menschliche Leiblichkeit. Hier liegt das Problem. Wieso sollten es Jugendliche gut finden, an ihrer eigenen Gestalt zu arbeiten? Anders wäre die Sache natürlich, wenn über Nacht ein Engel im Traum erschiene und verkündigen würde: Pass mal auf, morgen früh vor dem Spiegel, da hast du die Macht, dir im Handumdrehen einen neuen Körper zu verschaffen – schwupp – und schon siehst du genauso gut aus, wie du schon immer aussehen wolltest. Cool! – Extrem uncool scheint dagegen die Forderung der Eurythmie: Bewege dich von innen! Man kann das verschleiern, wie man will – das sieht nicht gut aus, wenn ich das mache. Wie man da rumstolpert, hilflos mit den Armen rudert und über die eigenen Füße fällt. Voll peinlich, wie ein Opfer, eine Zumutung!

Gehen wir davon aus, dass ein Dichterwort noch Gültigkeit hat und sagen mit Ingeborg Bachmann: Die Wahrheit ist dem Menschen zumutbar. In der Eurythmie wird die Wahrheit sichtbar, dass der Mensch seinen Körper nicht in der Hand hat – dass er in Wirklichkeit nicht Macht hat über den Leib. Es sieht so aus im Alltag, als könne er das – ihn von oben bis unten beherrschen – aber das stimmt nicht. Eurythmie konfrontiert uns mit der (geistigen) Wirklichkeit des körperlichen Seins. Sie erfordert ganz simple Bewegungen, total anspruchslos auf leiblicher Ebene, das kann jeder, sollte man meinen. Aber siehe da, es passiert Unglaubliches, das Bewusstsein kommt nicht mehr mit – als ob man plötzlich nicht mehr wüsste, wo vorn und hinten ist, als ob man gegen unsichtbare Hindernisse prallte. Das macht hilflos und aggressiv. Wie soll das ein Jugendlicher aushalten, ohne die Krise zu kriegen?

Das geht nur durch ein Vorbild, wie immer in der Kunst. Nehmen wir die Theaterkunst als Beispiel. Am Anfang ein ähnliches Drama: Niemand macht bei den ersten Proben eine gute Figur. Auch da wird gehampelt und gezappelt, der eigene Körper steht dumm im Weg rum und weiß nicht, wohin mit den Armen und Händen. Aber alle wissen: Das wird schon. Alle wissen Bescheid: Das ist Kunst. Irgendwann spielt man sich frei in der Hingabe an die Rolle und dann kleidet sie. Schauspiel ist auf jeden Fall cool und genießt Renommée draußen in der Welt. Wer wäre nicht gern ein großer Schauspieler, alle mussten ja mal klein anfangen …

Liebe Eurythmie, Du bist eine arme Kunst, trotz Deiner Seidengewänder, Dich gibt’s da draußen als Kunst ja kaum noch. Beinah ausgestorben bist Du auf der Bühne, hast keine Vorbilder, nur ein Urbild – das ist der freie Mensch. Derjenige, der seinen Körper jenseits aller Rollenbilder und Klischees von innen wahrnimmt, aus der Autonomie des eigenen Bewegungssinns. Mag der erscheinen, wie er will, er ist einmalig. Es ist wesentlich deiner – unter all den Milliarden Erdbewohnern fühlst nur du dich so in deinem Körper. Das bist du, es ist deine Persönlichkeit, die diesen Körper trägt, ihn bewohnt, bewegt, zum Lebensausdruck bringt. Dies einzusehen, dazu verhilft Eurythmie.

Da sie nun aber eine Kunst ist, ergeht die berechtigte Frage von Schülerseite: Kann man mal sehen, wie das aussieht, wenn einer wirklich Lust dazu hat? Hier liegt der Hund begraben. Es ist die Frage an die Wirklichkeit der Erwachsenen: Wie haltet Ihr’s mit der Eurythmie, liebt Ihr sie? Damit schließt sich der Kreis dieser Betrachtung. Jede Kunst braucht einen Schauplatz. Wenn sie jedoch in der Schule im Erfahrungsfeld der Erwachsenen keine Würdigung findet, ist es damit schlecht bestellt. Das Wohl und Wehe dieser pädagogischen Unternehmung liegt in der Anteilnahme von Eltern- und Lehrerschaft. Damit aber steht es nicht zum besten. Wer soll sie den Kindern näherbringen, diese große Unbekannte, die Übung der Lebenskräfte?

Es zeichnet sich hier ein neuzeitlicher Bedarf an eurythmischer Öffentlichkeitsarbeit ab, handfest, praktisch, bloß nicht wieder als Mission. Eurythmie wird als Schulfach auf Dauer nur zu halten sein, wenn sie leben darf als Kunst wenigstens im Schulbetrieb. Neue Künstler braucht der Betrieb, die zur Erwachsenenbildung freigestellt werden. Dann, wenn Eurythmie von der Schulgemeinschaft tatsächlich getragen und erlebt wird, kann sich leichter das Wunder ereignen, das sich heute die Eurythmisten nebenbei aus den Knochen schinden: Dass man Zeuge der unglaublichen Metamorphose wird, wie ein verklemmter, eben noch halbwüchsig ungelenker Körper plötzlich alle Beschränkung abwirft. Seine Seele breitet weit ihre Flügel aus … Schön wie ein Engel, als ein Inbegriff von Würde erscheint da plötzlich des Menschen Bild. So schön, dass man weinen könnte vor Begeisterung. Kann sein, es kommt mal irgendwann ein Weltkünstler vorbei und sieht das ein.

So wie mit Steiners Wandtafelzeichnungen damals, aber die Eurythmie kann man nicht in Archiven einlagern und für die Zukunft aufbewahren. Also los, Ihr Erwachsenen, ab an die Arbeit. Die Kinder warten drauf.