Event oder ganzheitliche Unternehmung?

Johannes Roth

Mit Zuspitzungen und griffigen Thesen wirbt der Autor für erlebnispädagogische Unternehmungen als »nachhaltig wirkende ›Initiationshelfer‹ des ›Klassengeistes‹«. Dabei schreckt er weder vor groben Vereinfachungen noch vor mehr oder minder offener Einladung zum Outsourcing von Klassenfahrten zurück. Ein Schelm, wer dabei an Werbung für das vom Autor geleitete Institut denkt … Zwar bezieht er sich auf waldorfpädagogische Grundsätze und den Lehrplan, scheint aber nicht zu wissen, dass die Gegenüberstellung »Hier [in der Schule] das Wissen, dort [auf Klassenfahrten] das Erleben« keineswegs im Sinne der Waldorfpädagogik ist! Vielmehr zielte die ganze Lehrerbildung Steiners von Anfang an darauf hin, dass dieser Antagonismus nicht bestehen möge.

Mag man auch an den real existierenden Waldorfschulen manches bemängeln können, so verdienen sie dieses klischeehafte Pauschalurteil nicht. Jeder gemeinsame Lernschritt ist ein Erlebnis, was sich immer wieder gut beobachten lässt. Insbesondere fällt ins Auge, wie wenig Bedeutung der Autor der Person des Klassenlehrers oder der Klassenlehrerin beimisst, Subtext: Wenn er oder sie keine erlebnispädagogischen Genies sind, sollen sie bitte dem Event nicht im Wege stehen …

Klassenfahrt unter pädagogischen Gesichtspunkten

Um eine Art Gegenentwurf zu den genannten Ausführungen zu beschreiben, skizziere ich die Klassenreise, die ich im Rahmen meiner Waldorfschulzeit zu Beginn der 7. Klasse erleben durfte. – Diese führte uns nach Maloja im Oberengadin, und schon Monate vorher hing in unserem Klassenzimmer ein großes Photo mit den drei Seen, die der junge Inn dort bildet. Das weckte Vorfreude; es war ein gemeinsames Darauf-Zugehen, das die ganze Klasse erwärmte. Wir wohnten dann zehn Tage in der Jugendherberge und unternahmen täglich große Touren. Diese waren so, dass uns in den Pausen unser Lehrer, damals schon Anfang 50 und vom Typ her gewiss kein charismatischer Freizeitpädagoge, die umliegenden Gipfel zeigte und die rätoromanischen oder italienischen Namen erläuterte – unvergessen: Monte Disgrazia, der »Ungnädige«. Unser Lehrer hatte sich in fleißiger Arbeit diese Gegend so zu eigen gemacht, dass er sie uns zeigen konnte; gemeinsam schauten wir in die Welt, entdeckten ihren Reichtum und freuten uns daran. An den Tagen, an denen kleinere Touren anstanden, hatten wir morgens Unterricht, dabei erfuhren wir manches über die Geologie, Flora, Fauna, Geschichte und Kultur des Engadins. Natürlich gehörte auch eine abendliche Geschichte dazu – und ein Austausch: Was haben wir heute gesehen? Tagebuchschreiben, Singen. So wurde diese Unternehmung von einer reinen Natur- und Grenzerfahrung (die Touren waren teils wirklich herausfordernd, jedenfalls so, wie sie heute wohl kaum mehr in einem 38-köpfigen Klassenverband durchzuführen wären) zu einem ganzheitlichen Erlebnis, das noch sehr lange nachwirkte, auch wenn ich mich nicht an die vom Autor gepriesene gegenseitige Wundversorgung oder dergleichen erinnern kann. Entsprechend den damaligen Möglichkeiten gab es hinterher nicht wie heute eine E-Mail mit Link zu einer Dropbox, in der man angesichts der dort vorhandenen Riesenauswahl von x-100 Bildern doch recht schnell resigniert, sondern unser Lehrer hatte mit großer Sorgfalt einige Dutzend Fotos auf große Pappdeckel aufgeklebt und mit seiner schönen Handschrift nummeriert. Sie hingen dann wochenlang im Klassenraum, sodass wir immer wieder an das gemeinsame Erlebnis erinnert wurden. Es ist ja nicht so, dass dergleichen heute nicht mehr möglich wäre, nur ist es eben sehr viel Arbeit, pädagogische Gesichtspunkte in wirklich allen Bereichen anzustreben.

Natürlich bildet die Gebirgswelt des Engadins mit den Gletscherriesen des Bernina, den lieblichen Lärchenwäldern, den Seen und den herabstürzenden Gewässern einen durchaus besonderen Rahmen, der aus sich heraus schon wirkt. Dennoch bin ich mir sicher, dass die Hauptwirkung nicht von dem »Was« ausgegangen ist, sondern von dem »Wie« der Vorbereitung und Durchführung. Das ließe sich am Edersee ebenso machen wie auf der Schwäbischen Alb oder im Thüringer Wald …

Zum Erlebnis soll auch der Unterricht werden

Es ist nicht nachzuvollziehen, weshalb eine Klassenfahrt einen Kontrast zum sonstigen Unterrichtsgeschehen bildet, wie es der Autor nahelegt. Seine These, in der Schule und auf Klassenfahrten herrschten »vollkommen andere pädagogische Gesetze«, ist schlicht falsch. Vielmehr lassen sich alle diejenigen Maximen, die für die Pädagogik des zweiten Jahrsiebts leitend sind, auch auf Fahrten und Unternehmungen dieser Art anwenden. Es ist allerdings viel Mühe damit verbunden, weshalb es begreiflich ist, wenn sich manch einer davon überfordert fühlt. Oft hat es den Anschein, dass eine Klassenfahrt angesetzt wird, weil es sein muss. Es machen ja alle. Schülerberichte von Klassenfahrten, bei denen der Klassenlehrer außen vor war (womöglich sogar im kühlen Quartier Zeugnisse schrieb …), während die Kids von coolen Teamern geführt wurden, habe ich schon manches Mal vernommen. Begeisterung sprach durchaus nicht daraus. Ob es der Klassengemeinschaft hilft, wenn es am Ende heißt »XY ist toll, und wie langweilig dagegen unsere Lehrer!«, sei dahingestellt. – So ist den Lehrern der Mut zu wünschen, sich nicht auf den Wettlauf einzulassen, der oft zu beobachten ist: »Wer macht die meisten Fahrten?«, sondern lieber vielleicht nur eine große Fahrt, aber diese dafür nachhaltig im Sinne der oben beschriebenen Aspekte zu unternehmen. Oder vielleicht auch gar keine, wenn sie nicht wirklich überzeugt davon sind. Mir hat ein Klassenlehrer sehr imponiert, der den Eltern gleich zum Schuljahresbeginn eröffnete, er werde keine Samstags-Wandertage anbieten, womit er im Gegensatz zu vielen Kollegen stand, sondern sich ganz auf den Unterricht konzentrieren. Auch aus einem guten Hauptunterricht können Kinder erlebnisgesättigt und mit leuchtenden Augen nach Hause kommen, ganz ohne Spurenlesen und Feuermachen. Denn wenn es dem Unterricht an erlebnispädagogischen (!) und sozialen Elementen mangelt, lässt sich der »Klassengeist« auch mit der tollsten Fahrt allenfalls nur kurzfristig wecken.

Zum Autor: Johannes Roth ist Priester der Christengemeinschaft in Kassel.

Was ist eine gute Klassenfahrt?