Fremdgeschämt: »Wozu sprecht Ihr denn den Morgenspruch?«

Markus von Schwanenflügel

Ich schreckte auf. Es war meine Stimme, die mich da geweckt hatte ... Ich befolgte den Marschbefehl vor die Tür, ohne auch nur den Versuch einer Entschuldigung zu wagen und kam so darum herum, vor der versammelten Mannschaft, die sich schon mal hatte setzen dürfen, das »rollende R« zu üben.

Das Nachspiel in der folgenden Pause war kurz, denn in der Zwischenzeit war der klugen Lehrerin ein Licht aufgegangen: Der junge Mann war innerlich am familiären Frühstückstisch hängen geblieben, wo selbstverständlich das Gebet mit einem Amen abgeschlossen wurde.

Diese kleine Geschichte erzählte ich vor ein paar Tagen Moritz. Er ging auch auf eine Waldorfschule und macht gerade auf unserem Jugendhof Naatsaku ein Freiwilliges Soziales Jahr. Ein Gespräch über die Sprüche, Gedichte und kleinen Texte, die bei uns vor den Mahlzeiten gesprochen und gelesen werden, und über das Besondere eines Gebetes hatte ich zum Anlass genommen, danach zu fragen, ob denn während seiner Schulzeit einmal über den Morgenspruch und seine Geschichte gesprochen worden sei. Das verneinte er und fügte gleich hinzu, dass er das sehr bedaure. Ein Freund vom Gymnasium habe einmal bei ihnen im Unterricht hospitiert und er sei sich ziemlich blöd vorgekommen, als er sich mit seinen Klassenkameraden erheben musste und sie wie üblich den Morgenspruch mehr oder weniger geistesabwesend vor sich hinmurmelnd hinter sich brachten. Es sei für ihn die typische Situation des Fremdschämens für »seine« Schule gewesen. Als sein Freund ihn dann in der Pause auch noch nach dem Sinn dieser Übung fragte, habe er sich völlig überfordert gefühlt.

Im Lauf der Jahre haben immer wieder Waldorfschüler hier auf dem Hof über längere Zeit mit uns zusammenlebt, und so waren die vielfältigsten Erfahrungen mit der Waldorfpädagogik häufig ein Thema. Meist stellte sich in den Gesprächen heraus, dass die jungen Leute sehr gerne während ihrer Schulzeit mehr über die Hintergründe dieser Pädagogik erfahren hätten. Bereits als Schüler hätten sie oft bemerkt, dass sie, was und wie sie in ihrer Schule lernten, zwar ihren Freunden hätten beschreiben können. Warum aber so vieles anders war als an den staatlichen Schulen, hätten sie oft nicht wirklich erklären können. Diese Situation kann sich verschärfen, wenn Schüler von Waldorfschulen, z.B. im Studium oder in der Berufsausbildung, mit negativen Urteilen über ihre Schule konfrontiert werden: Die Waldorfpädagogik sei dogmatisch, die ihr zugrundeliegende Anthroposophie rassistisch, Rudolf Steiner ein Antisemit gewesen usw. Sie sind eigentlich recht sicher, dass das alles unwahre Behauptungen sind, stellen aber fest, dass sie ihnen nichts entgegensetzen, geschweige denn, sie als Vorurteile entlarven können. Wieder erleben sie es als peinlich, wenn sie merken, dass sie nur in der Lage sind, ihnen meist durchaus sympathische Erfahrungen mehr äußerlich zu beschreiben, aber keine Möglichkeit haben, ihre Gefühlsurteile zu begründen.

Diese Problematik hat eine alte Tradition. Als ich in den 1960er Jahren in der Oberstufe war, durften wir Schüler leichtsinniger Weise einen Vortrag von Benediktus Hardorp über die Dreigliederung des Sozialen Organismus hören. Er sprach über Rudolf Steiner in der Arbeiterbildungsschule in Berlin, Wilhelm und Karl Liebknecht, Ansprachen Steiners vor Tausenden von Zuhörern ... Damit erreichte er selbst die Schüler der Schule, die den Ruf hatte, die »Schule für die reichen Dummen« zu sein. Und dann erwähnte er auch noch, dass die Waldorfschule ein Kind dieser Bewegung und für die Arbeiter einer Zigarettenfabrik gegründet worden sei ... Am nächsten Tag, beim Rückblick auf den Vortrag, verlangten wir, mehr über die Waldorfpädagogik und ihre Hintergründe zu erfahren. Dies wurde abgelehnt, denn die Waldorfschule sei keine Weltanschauungsschule und darum dürfe dort die Anthroposophie nicht im Unterricht behandelt werden, denn dadurch könnten die Schüler ja indoktriniert werden. Das trug unsere »Direktorin« so überzeugend vor, dass es keine weitere Diskussion gab ...

Ähnlich wie für Moritz hatte diese Zurückhaltung auch für mich Folgen, denn ich wollte Lehrer werden. Ich studierte also auch Erziehungswissenschaften und belegte im zweiten oder dritten Semester eines der ersten Seminare über die Waldorfpädagogik an einer staatlichen Hochschule. Auf der Grundlage des Buches Erziehung zur Freiheit von Frans Carlgren und Arne Klingborg hielt ich einen Vortrag und ging, obwohl ich meinte, gut vorbereitet zu sein, schmählich unter. Meine dialektisch geschulten Kommilitonen pflückten mein Plädoyer für die Pädagogik der Zukunft gnadenlos auseinander.

Sie hatten sich, angeregt von Alexander S. Neills Summerhill, mit antiautoritärer Erziehung beschäftigt, hatten für ihre Sprösslinge Kinderläden gegründet und planten für sich den von Rudi Dutschke propagierten »Langen Marsch durch die Institutionen«. So war es kein Wunder, dass sie glaubten, Kinder und Jugendliche zu erziehen, bedeute immer, in ihre Entwicklung einzugreifen und zwar, wie das Wort schon sagt, mit einem bestimmten Ziel. Wie soll da eine »Erziehung zur Freiheit« unter dem Leitmotiv der »Autorität« – ausgerechnet für das zweite Jahrsiebt – möglich sein? Diese Erfahrung führte dazu, dass ich meine eigene Schulzeit aus etwas größerer innerer Distanz reflektierte und mich selbst fragte: Wozu gibt es denn an der Waldorfschule den Morgenspruch, die Zeugnissprüche, die Märchen und biblischen Geschichten, Yggdrasil und Audhumbla, die Weihnachtsspiele, Parzival und Faust …? Und ich musste und durfte (!) feststellen: Genau damit hatten die Lehrer Erfolg, das alles hatte gewirkt. Bis auf die Knochen bin ich nicht nur durch mein Elternhaus, sondern auch durch meine Schule bzw. meine Lehrer geprägt. Noch heute ertappe ich mich z.B. dabei, wenn ich mit anderen Menschen irgendwo »in etwa« im Kreis stehe, dass ich den Abstand zu meinen Nachbarn – wie weiland im Eurythmieunterricht geübt – ausgleiche und nicht aushalte, dass meine Mitmenschen die ungleichen Abstände überhaupt nicht »spüren«. Ein Zeichen dafür, wie tief »ins Unbewusste« gerade das wirkt, was regelmäßig getan wird.

Damit war ich gleich zu Beginn meiner Ausbildung einem der Grundprobleme jeder (Schul-) Pädagogik begegnet, die den je individuellen Weg der jungen Menschen und deren Möglichkeit zur Selbstbestimmung respektieren will. Die Förderung des Eigensinns, den schon Hermann Hesse als höchste Tugend pries, müsste gerade für die Waldorfpädagogik die zentrale Aufgabe sein, wenn sie eine Erziehung zur Freiheit sein will. Aber wie soll das möglich sein, wenn ihre Grundlage eine Allgemeine Menschenkunde und ein Lehrplan ist?

Studiert man die pädagogischen Schriften Rudolf Steiners vor dem Hintergrund seiner Philosophie der Freiheit, so bemerkt man, dass trotz der Allgemeingültigkeit vieler Aussagen zur Entwicklung des Menschen in Kindheit und Jugend der Kern dieser Pädagogik eine radikale Abkehr von jeglicher Beeinflussung in eine bestimmte Richtung ist und eine unbedingte Offenheit gegenüber dem, was uns die Individualität des einzelnen Kindes entgegenbringt. Und dies ist nur möglich, wenn wir uns immer wieder darauf besinnen, dass der Unterricht, so wertvoll seine Inhalte auch sein mögen, immer nur ein Angebot sein sollte, aus dem der Schüler in Freiheit auswählen darf.

Das wird schon aufgrund der gegebenen Rahmenbedingungen und der üblichen Erwartungen an das, was Schule leisten soll, nicht immer gelingen. Aber selbst mit einem Zeugnisspruch oder einer nur gut gemeinten Praxis bei den Sprachübungen können wir einem Kind unzulässig und massiv zu nahe treten. Umso wichtiger ist es, dass wir durch eine Kultur des Übens vor allem in den künstlerischen Fächern und durch kritische Reflexion dazu beitragen, dass die jungen Menschen die Lust zur Selbstentwicklung und Emanzipation entwickeln.

Ein Anfang könnte sein, im Lauf der Schulzeit Schritt für Schritt gemeinsam mit den Schülern das zu betrachten, was wir mit ihnen getan haben – und zwar vor allem das, was an unseren Schulen anders ist. Damit würden sie gleichzeitig in die Lage versetzt, das, was sie an der Waldorfschule erlebten, kompetenter zu vertreten.

Zum Autor: Dr. Markus von Schwanenflügel war viele Jahre Oberstufenlehrer für Mathematik und Physik, zunächst an der Rudolf-Steiner-Schule Bochum, dann an der WindratherTalschule, und hat den Jugendhof Naatsaku in Estland aufgebaut. www.naatsaku.com