Freund, wie bist Du hier hereingekommen? Bewusstwerdung im Alltag

Jürgen Peters

Als der Protagonist ein neues Teammitglied darin trainiert, Träume bewusst zu beeinflussen, stellt er ihm plötzlich die Frage: Können Sie sich erinnern, wie Sie hierhergekommen sind? Das kann die Person nicht – und daran erkennt sie, dass sie sich in einem Traum befindet. Soweit so gut. Aber ein paar Wochen später ist mir das mehrfach im Traum passiert: Ich musste an die Aufforderung im Film denken. Mir wurde klar, dass ich mich nicht daran erinnern konnte. Ich wachte sofort auf. Da es ein Wochenende war und ich genüsslich weiterschlafen konnte, fiel ich bald wieder in Schlaf und der ganze Zyklus wiederholte sich mehrfach, bis mir innerhalb der letzten Traumsequenz klar wurde, dass diese Frage ja auch im Gleichnis der königlichen Hochzeit gestellt wird (Matthäus 22, 12).

Nachdem die geladenen Gäste nicht gekommen sind, schickt der König seine Diener »hinaus auf die Straßen« und befiehlt, diejenigen Menschen einzuladen, die sie antreffen. Die Diener folgen diesem Befehl und bringen »Gute und Böse«. Bei der Hochzeit sitzt schließlich einer ohne Festgewand da – wovon vorher nie die Rede war – und der Gastgeber stellt die entscheidende Frage: »Freund, wie bist du hier hereingekommen, da du doch kein Feierkleid trägst?« Der Angesprochene verstummt, wird gepackt, gefesselt und hinausgeworfen in die Finsternis, dorthin, wo Heulen und Zähneknirschen herrscht. Schließlich gibt es noch das Resümee (jedenfalls in Luthers Übersetzung): »Denn viele sind berufen, wenige aber sind auserwählt.« 

Dem König antwortet man immer 

Jetzt ist das Maß aber voll, könnte man sagen, was hat der arme Kerl denn falsch gemacht? Er hat doch nur getan, wozu er aufgefordert wurde und am Ende wird er gerade dafür bestraft! Das einzige Vergehen, das man ihm nachsagen kann, ist: Er hat dem König nicht geantwortet – und einem König antwortet man – immer! Wir würden dem König Ironie unterstellen, wenn sein Urteil von vorn herein feststehen würde, daher können wir davon ausgehen, dass der König eine echte Frage stellt – er will es wirklich wissen! Und schließlich, wie spricht er ihn an: Freund!

Das Schweigen scheint das Problem zu sein. Die fehlende Antwort. Das Nichtwissen. Die Dunkelheit. Warum ist dieses Verstummen denn so verhängnisvoll? Der Angesprochene hätte ja sagen können: »Ich habe kein Feierkleid, es ist mir gestohlen worden.« Oder: »Ich habe gar nicht gewusst, dass es so etwas gibt wie ein Feierkleid …« Was dann geschehen wäre, wissen wir nicht, vielleicht wäre er sogar allein durch eine ehrliche Antwort seiner Verurteilung entgangen … Vielleicht fehlte dem Angesprochenen die nötige Bewusstheit, weil er träumend durchs Leben ging. In diesem Fall hätte er lernen müssen, aufzuwachen. Tore sind immer eine Gelegenheit aufzuwachen. Man verlässt den einen Raum und betritt einen anderen. Als Lehrer muss ich da sofort an die Tür des Klassenzimmers denken. Wenn ich mir dazu noch vorstelle, dass mir jeden Morgen, wenn ich durch diese Tür gehe, jemand die Frage stellt: »Freund, wie bist Du hier hereingekommen?« – ganz wertfrei, neugierig und nüchtern. Und die Aufgabe wäre es, tatsächlich die eigene Befindlichkeit zu erforschen, meine Motive für diesen Tag, meine Absichten…

Vielleicht möchte man lieber verstummen, weil man sagen müsste: Ich bin hier, weil ich muss … Oder jemand sagt: Ich will etwas Besonderes leisten … Welches Motiv auch immer in uns schlummern mag. – Solange wir uns nicht trauen, es vor uns selber auszusprechen, blockieren wir etwas in unserer Entwicklung – und das ist die Fessel. Und solange wir uns unserer eigenen Motive nicht bewusst sind, träumen wir in gewisser Hinsicht. Es handelt sich also um eine Selbsterforschung. 

Der Mantel der Alltagssorgen 

Wie bist Du hier hereingekommen? Auf welchen Wegen? Was hat Dich hierher geführt? Damit kann auch der biographische Weg gemeint sein, eine biographische Standortbestimmung – und diesen Weg gehen wir allein. »Oligoi« – die Einzelnen. Wörtlich übersetzt lautet die Stelle bei Matthäus 22.13: »Berufen aber sind die Vielen, auserwählt werden die Einzelnen«. Das eine ist ein Gruppenphänomen – zum Beispiel die Lehrerausbildung in einem Seminar: die Berufung. Das andere ist eine individuelle Erfahrung – der Weg des Lehrers zu seiner Klasse: das »Ausgewähltsein« – und diesen Weg geht jeder ganz allein.

Bleibt das Feierkleid. Was ist das Feierkleid? Rudolf Steiner hat uns empfohlen, den Mantel der Alltagssorgen vor der Klasse abzulegen, bevor wir den Unterrichtsraum betreten. Aber welches Feierkleid ziehen wir an, damit der Unterricht ein Fest wird? Ist es vielleicht doch ein Vergehen, ganz ohne Feierkleid zu kommen – trotz aller ehrlichen Selbsterforschung? Der eine wird sagen: Gestern habe ich etwas Wunderbares erlebt, das muss ich meiner Klasse erzählen! Und schon besitzt er einen glitzernden Überwurf. Der andere spürt vielleicht, wie gern er zu diesen Kindern geht, und schon bringt er etwas mit, an dem gemeinsam gewebt wurde. Es gibt viele Möglichkeiten und sie werden reicher, wenn man sie sich bewusst macht.

Also wagen wir vielleicht die folgende Übung für einen Monat lang: Uns jeden Morgen vor der Klassentür gefragt zu fühlen: »Freund – wie bist Du hier hereingekommen?«

Nur eines dürfen wir dann nicht tun: Verstummen. Denn das Erforschen der eigenen Motive führt zu einer Art  Aufwachen, zu einem bewussteren Leben, zu einer größeren Integrität. Und vielleicht – um mit einem Gedicht aus einem andern Film zu schließen – können wir dem Entdecker der Liebe im »Million Dollar Hotel« zustimmen, wenn er sagt: 

Jedes Herz ist ein Schneewittchen
Die Liebe ist der einzige Bann
Dem es nicht widerstehen kann
Selbst wenn die Augen offen liegen
Die Herzen sich im Schlafe wiegen
Auf den Weg dorthin
Musst du dich machen
Denn alle Herzen träumen
Sie träumen vom Erwachen