Ganztagsbetreuung – muss das sein?

Helena von Hutten, Noémi Schrodt

Unserer Meinung nach gar nicht. Umso verwunderter beobachten wir, wie immer mehr Waldorfkindergärten ihr Angebot für die ganz Kleinen erweitern. Wir sind zwei junge Mütter von insgesamt fünf Kindern, beide ehemalige Waldorfschülerinnen und publizieren Artikel zu dem Thema »Selbstbestimmte Mutterschaft, familienfreundlicher Feminismus und mehr Rücksichtnahme auf die Bedürfnisse von Kindern«.

Fremdbetreuung ab wann?

Unsere Kinder gehen erst mit drei oder vier Jahren in den Kindergarten und bleiben dort auch nur bis zum Mittag, gegessen wird möglichst zu Hause. Von dem derzeit herrschenden Druck der Gesellschaft und der Politik wollen wir uns nicht beeinflussen lassen, sondern unsere Kinder so lange zu Hause behalten, bis sie sich von allein für ein paar Stunden am Tag aus dem elterlichen Schutz- und Wirkungskreis lösen möchten. Dass dies vielen Familien aus wirtschaftlichen Gründen überhaupt nicht möglich ist, ist uns sehr wohl bewusst. Diesen Zustand halten wir für besorgniserregend, insbesondere für die Kinder. Denn sie sind das schwächste Glied unserer Gemeinschaft, diejenigen, die sich noch nicht adäquat äußern können, höchstens durch bitteres Weinen beim morgendlichen Abgeben oder durch überdrehtes, erschöpftes Verhalten am Nachmittag nach dem Abholen.

»Moderne Familienpolitik« bedeutet heute, sein Kind vom ersten bis zum 18. Lebensjahr möglichst den ganzen Tag fremdbetreuen zu lassen. Üblicherweise kehren die Mütter und Väter bereits ein Jahr nach der Geburt des Kindes in den Beruf zurück. Kitas werden deutschlandweit ausgebaut.

Es spricht Bände, dass die Politik zuerst den raschen beruflichen Wiedereinstieg nach der Geburt des Kindes befeuert hat, anstatt zunächst die Qualität an den Kitas und Ganztagsschulen zu gewährleisten. Hohe Lärmpegel, Überforderung, Unterbesetzung und Streiks sind an vielen deutschen Kitas Alltag geworden. Eltern bibbern, ob sie einen Platz bekommen, Öffnungszeiten werden nach hinten verschoben und Diskussionen darüber geführt, ob die Institutionen bis 18 Uhr oder bis 19 Uhr geöffnet bleiben sollen. Die Waldorfeinrichtungen ziehen in der Regel mit.

Wir haben zumindest von der Waldorfpädagogik erwartet, dass wir uns dort »verstanden« und »aufgehoben« fühlen. Doch auch sie geht allmählich in die Knie. Auch Waldorf bietet heutzutage Kleinkindgruppen ab einem Jahr an, Waldorfschulen werden plötzlich zu Ganztagsschulen. Wirtschaftliche und gesellschaftliche Zwänge betreffen eben auch sie. Doch sollte eine Schule oder ein Kindergarten und vor allem jeder einzelne Pädagoge nicht in erster Linie im Sinne des Kindes agieren? Gerade dann, wenn man sich das Grundprinzip »Vom Kinde aus« auf die Fahnen geschrieben hat?

Wo bleibt die Hülle für das Kind?

Natürlich müssen auch Waldorfschulen mit der Zeit gehen. Es ist immer erstrebenswert, Erneuerungen und Veränderungen zu begrüßen, solange sie eben auch eine Verbesserung darstellen. Aber wo bleibt die Qualitätssicherung? Gerade die sogenannte »Hülle« spielt in der Waldorfpädagogik doch eine große Rolle. Anthroposophische Ärzte empfehlen rote und blaue Tücher am Himmelbett eines Säuglings, da diese Farben an den Mutterleib erinnern sollen; die Farben in den Klassen werden so ausgewählt, dass die Kinder sich in den Räumen geborgen fühlen. Doch was geschieht mit der Hülle, wenn man den Kindern unter der Woche tagsüber zu einem Großteil das elterliche Umfeld, die geborgene häusliche Umgebung entzieht? Ist dies nicht die kostbarste und wichtigste Hülle, essenziell für die rundum gesunde Entfaltung des Kindes? Ist Waldorf noch Waldorf, wenn es diesen Grundgedanken untergräbt? Warum hört man so wenige kritische Stimmen von Seiten der Waldorfeinrichtungen? Wir haben schon mehrere Informationsabende in Waldorfkindergärten besucht, wo nur sehr zaghaft darauf hingewiesen wurde, dass eine Ganztagsbetreuung für kleine Kinder zu lang und anstrengend sein könnte. Wir erleben, dass zweijährige Kinder über Wochen und Monate hinweg stundenlang weinen, weil sie die Trennung von ihrer Mutter oder ihrem Vater nicht verkraften, die Erzieher aber keine Notbremse ziehen und den Eltern gegenüber keine klare Haltung zeigen. Warum diese Zurückhaltung?

Ganztagsbetreuung – nur im Notfall

In Berlin gibt es für die Kitas mehr Bewerber als freie Plätze. Warum also keine Auswahl treffen, die auch die Haltung zur Kleinkindbetreuung einbezieht? Warum bietet man zum Beispiel nicht nur den Familien Ganztags-Betreuungsplätze an, die es auch wirklich nötig haben, Alleinerziehenden oder Geringverdienern, die auf zwei Gehälter angewiesen sind? Waldorf soll ja nicht nur wohlhabenden Verheirateten zu Gute kommen. Dann wären die Nachmittagsgruppen kleiner und familiärer.

Gleiches gilt für die Kleinkindgruppen auch am Vormittag. Ja, die Klientel würde wahrscheinlich zunächst schrumpfen, aber wir denken, dass mit der Zeit die Qualität wachsen und dem hohen pädagogischen Anspruch genügen würde. Eventuell würden die Eltern, die sich über einige Jahre mehr finanziellen Spielraum erlauben dürfen, ihre Kleinkinder sogar länger selber betreuen, wenn das ein Kriterium für die Aufnahme in eine Waldorfeinrichtung wäre.

Es ist letztlich eine Frage der inneren Überzeugung, wofür man einstehen will und welchen Preis man dafür zu zahlen bereit ist. Natürlich ist die Politik gefragt, Wahlfreiheit zu ermöglichen, anstatt in erster Linie von wirtschaftlichen Interessen motiviert zu handeln, aber auch wir Eltern, Erzieher und Lehrer sollten uns klar positionieren und für unser Recht auf eine entspannte Erziehungszeit und vor allem für das Recht unserer Kinder auf eine Kindheit ohne Stress und ohne Verzicht auf umfassende elterliche Fürsorge einstehen.

Zu den Autorinnen: Helena von Hutten lebt mit Mann und drei Töchtern im Berliner Umland und ist »Vollzeitmutter«. Noémi Schrodt lebt ebenfalls in Berlin und widmet sich nach einigen Jahren Berufstätigkeit als Waldorf-Musiklehrerin ihrer vierköpfigen Familie. Beide Frauen sind ehemalige Waldorfschülerinnen und publizieren Online-Artikel zum Thema »Selbstbestimmte Mutterschaft heute«.