Hans im Glück

Rosemarie Pascher

Der Leiter der Klinikschule der Kinder- und Jugendpsychiatrie am Gemeinschaftskrankenhaus Herdecke machte darin eine bedrückende Aussage: »… wenn eine Fehlentwicklung einmal eingesetzt hat und fortgeschritten ist, [wird] die Situation von Waldorfschülern« im Vergleich zu der von Schülern anderer Schularten »durch Missverständnisse erschwert, die eng mit einer eher dogmatischen Handhabung und rigiden Interpretation von waldorfpädagogischen Grundsätzen in Verbindung zu bringen sind«.

Es stellt sich die Frage, wie es zu solchen Missverständnissen kommen kann, zumal sie paradoxerweise gerade vor dem Hintergrund eines pädagogischen Wissens zu entstehen scheinen. Das, was ich mir redlich erworben habe, wird zum Hemmnis – wie kann das sein?

Ich muss hierbei an das Märchen von »Hans im Glück« denken, der an seinem über lange Jahre erarbeiteten Lohn in Form eines großen Goldklumpens je länger, desto schwerer zu tragen hat. Das Gold, das ihm überaus wertvoll war, behindert ihn auf seinem Weg. Hans behilft sich, indem er den Goldklumpen gegen etwas anderes tauscht, was er dann wiederum eintauscht, und so weiter und so fort. Hans bewältigt also seinen Weg, indem er sich nicht an das Erworbene klammert, obwohl jeder Tausch, den er eingeht, von außen betrachtet ein Verlustgeschäft ist. Er verwandelt es stattdessen je nach Situation oder dem, was ihm begegnet – so könnte man seine Tauschgeschäfte ja auch auffassen. Zu guter Letzt fällt ihm der Schleifstein, in dessen Gestalt sein Gold inzwischen daherkommt, in einen Brunnen, der im Märchen stets eine besondere Rolle spielt. Das mag bedeuten, dass Hans sich sein Erworbenes, das ja äußerlich immer weniger wurde, nun im tiefsten Innern gänzlich anverwandelt hat. Und dann gelangt er »leichten Schrittes«, wie es im Märchen heißt, an sein Ziel, nach Hause.

Im Werden bleiben

Dafür, dass pädagogisches Wissen nicht zum Hemmnis wird, mag also entscheidend sein, ob man es sich im Austausch mit der Wirklichkeit immer wieder anders aneignen, vertiefen und verinnerlichen kann oder ob man daran äußerlich und unverwandt, gar unwandelbar festhält. Mir kommt in diesem Zusammenhang ein Text von Martin Luther in den Sinn, der lautet: »Das Leben ist nicht ein Frommsein, sondern ein Frommwerden; nicht eine Gesundheit, sondern ein Gesundwerden; nicht ein Sein, sondern ein Werden …«

Will sagen: Wir sind auf dem Weg und noch nicht am Ziel. Oder vielleicht auch: Wir sollen uns als Werdende verstehen und nicht annehmen, wir »hätten’s schon ergriffen«, wie Paulus es formulierte. Von einer überaus erfahrenen Waldorfkindergärtnerin habe ich einmal den Satz gehört: »Die Waldorfpädagogik steht noch ganz am Anfang« – eine im ersten Moment geradezu irritierende Aussage angesichts der bald 100-jährigen Erfolgsgeschichte der Waldorfschulbewegung. Reichle bestätigt, dass es jedenfalls noch Spielraum gibt, wenn er feststellt: »Die Schüler der Kinder- und Jugendpsychiatrie konfrontieren uns mit dem noch nicht Erreichten.«

Kinder sind Werdende; in ihnen kommt die Zukunft auf uns zu. Wissen aber ist Gewordenes und entstammt insofern der Vergangenheit. Unter diesem Aspekt lässt sich noch einmal auf die Geschichte des Hans zurückgreifen: Der Weg, den er zurücklegen muss, korreliert ja mit dem Fortschreiten der Zeit. Auf dem Weg voranzukommen, mag also dafür stehen, jeweils auf der Höhe der Zeit zu sein. Das heißt, man müsste in Bewegung bleiben und sein Wissen immer wieder verwandeln und vertiefen, um mit den Kindern jeweils Schritt halten und ihnen gerecht werden zu können. Wenn man sich stattdessen auf das Erworbene zurückzieht, sozusagen auf seinem Stand bleibt, muss geradezu eine Diskrepanz, ein Missverhältnis entstehen, dem die besagten Missverständnisse entspringen mögen.

Dem Anderen begegnen

Woran lässt sich aber bemerken, dass man vielleicht etwas missverstanden haben könnte? Am Beispiel des Hans zeigt sich, dass die Wirklichkeit einen belehren möchte – die Schwierigkeit liegt manchmal darin, das zu erkennen. Manches Problem im pädagogischen Zusammenhang mag eigentlich ein Hinweis darauf sein, dass man etwas falsch aufgefasst hat, das einem nun den Blick verstellt. Es käme also darauf an, solche vielleicht lästigen oder gar ärgerlichen Ereignisse als Fingerzeig wahrzunehmen, als Anstoß, die Sache anders zu betrachten, sein Gold zu verwandeln.

Die Momente, in denen man sich an etwas stößt, schaffen ja Bewusstsein: Plötzlich wird man wach für etwas – oder für jemanden. Dann findet Begegnung statt, und man sieht für einen kurzen Augenblick wirklich den Anderen und nicht etwa nur die Vorstellung, die man sich vielleicht von ihm gemacht hat, oder das Deutungsmuster, dem man möglicherweise unwissentlich folgt. Das kann ein entscheidender Punkt in der pädagogischen Beziehung sein und geradezu Voraussetzung für alles Weitere. Peter Selg spricht in diesem Sinne vom »wirkliche(n) Sein beim Kind …, raumöffnend und -gebend: dass der Andere sich zeigen und entwickeln kann«. Gerade engagierte Pädagogik mag besonders darauf zu achten haben, den ihr anvertrauten Kindern und Jugendlichen frei und freilassend zu begegnen. So betont Selg auch, »dass man nicht versucht, sich vom Anderen ein Bild zu formen: so soll er sein, sondern sich ihm öffnet, dass er … in einem lebendig werden kann, dass er sich selbst ausspricht, dass wir eigentlich ein Organ der Wachsamkeit und Erscheinung werden – für das Kind, für das Du, für den Anderen«. Wenn wir das schafften, wäre wohl jedem pädagogischen Missverständnis der Boden entzogen.

Hans hat am Schluss der Geschichte die Hände frei – man kann sich ausmalen, welche Möglichkeiten der Begegnung daraus erwachsen. Die vermeintlich leeren Hände bergen weitere Optionen: Etwas zu empfangen, tätig zu werden, offen zu sein – im Werden zu bleiben. Ein Glück!

Zur Autorin: Rosemarie Pascher machte in den Karl-Schubert-Werkstätten Filderstadt eine Ausbildung als Handweberin, hat dann Schulmusik und Geschichte für das Gymnasiallehramt in Heidelberg studiert und acht Jahre an verschiedenen Gymnasien unterrichtet. Studium der Waldorfpädagogik.

Literatur: Peter Selg: Der geistige Kern der Waldorfschule, Arlesheim 2011