Herr Rapp hat recht: Es gibt auch die Anderen

Stephan Schad

Die Autobiographie von Herrn Rapp, eloquent als essayistischer Beitrag angekündigt, endet nach drei Absätzen, in denen er als 15- oder 16-Jähriger – so genau scheint er sich nicht zu erinnern, aber Fakten sind bei der literarischen Form des Essay richtigerweise nicht wichtig – eine als ungut erlebte Trauerfeier zur Grundlage nimmt, diffuse Mutmaßungen über eine Familie und Ihren behandelnden Arzt respektlos auszubreiten. Denn daran erinnert er sich noch ganz genau: das waren alles schlimme Anthroposophen, die im Zweifel ihre Kinder opfern. Klar, so war es. Der Spiegel ist mal wieder am zyklischen Höhepunkt seines Steinerbashings angekommen.

Ähnlich profund und sachlich wird der erstaunte Leser im Weiteren so ziemlich an jedem Vorurteil zur Anthroposophie vorbei lustiert. Rapp flegelt sich ungebremst durch den Vorgarten der illuminierten Steinergegner. Oder sollte man besser sagen, der wahren Steinerversteher? Zusammenhänge werden hergestellt, die keine sind, Unverstandenes ist unverstehbar und damit suspekt, bzw. selbstredend falsch. Die Methode ist immer gleich. Steiner war wahnsinnig, aber auch irgendwie modern in seiner Zeit, und ansonsten ist alles gefährlicher Unsinn, der seither arme, urteilslose Menschen verführt, z.B. die Eltern von Herrn Rapp, die ausgerechnet ihm eine Steinerschule haben angedeihen lassen. In Rapps treffsicherer Deutung geschieht das bis heute, weil die deutsche Gesellschaft die feinstoffliche Wirkung der zersetzenden Esoterik ja noch nicht mal merkt! Wenn er vielleicht etwas mehr fernsehen würde, könnte er sicherlich erklären, wieso im knallhart rational regierten Bayern seit Pandemiebeginn die Inzidenz meist am höchsten war – nur leider die Waldorfschulrate dort im Bundesvergleich ziemlich niedrig ist und noch niedriger in Sachsen oder Tschechien. Aber gut, Waldorfschüler sollen ja Schwächen in naturwissenschaftlichen Fächern haben, z.B. Mathematik oder Geographie. Auch in Geschichte hat er nicht gut aufgepasst – bzw. war die Waldorfschule sicherlich schlecht gewesen –, denn die eigenständige Mentalität der Schweizer ist ganz und gar der Anthroposophie erlegen und das schon seit Jahrhunderten. Es impft sich ja keiner. Eben.

Rapp arbeitet sich am Erfolg anthroposophisch impulsierter Konzepte und Firmen ab. Dafür braucht er das Narrativ der Sekte, die die ahnungslose Gesellschaft heimlich infiltriert und aus dem All hinters Licht führt – oder so ähnlich. Ein Schelm, der hier Verschwörung wittert. Verschwörung von wem jetzt? Die GLS-Bank ist seit Jahren unter den beliebtesten Banken Deutschlands, ihre Anlagekriterien waren schon sozial und ökologisch als Herr Rapp noch von verirrten Lehrern erfolglos indoktriniert wurde – aber klar, das sind ja Umfragen des geblendeten Plebs. Demeter ist bundesweiten laut Befragungen eine der hochwertigsten Qualitätsmarken, aber selbstverständlich nicht deswegen, weil die Produkte gut sind oder gar, weil es seit Jahrzehnten zu den nachhaltigsten Agrarformen mit Kreislaufwirtschaft, Tierwohl und Biodiversität gehört (Aspekte, die soeben in Glasgow als Teil einer modernen und zukunftsfähigen Klimapolitik global empfohlen wurden), sondern natürlich wieder wegen der bizarren Mystik. Klingt logisch. Bei Weleda ist es auch wichtiger »eigenartige Rituale« zu behaupten, als ihre Vorreiterrolle für nachhaltigen Umgang mit Ressourcen oder ihre Erfolgsgeschichte als eine der meist ausgezeichnetsten Firmen der Naturkosmetik anzuerkennen.

Kräfte und das All sind Rapps Sache nicht. Geschenkt. Keine Frage, es sind auch aus anthroposophischen Kreisen – wie überall in der Gesellschaft vorgekommen – Irrungen und Wirrungen vagabundiert, manche unerträglich, das ist nicht gut und muss kritisiert werden. Aber auch hier wird sich in Zukunft die Demut vor der Wirklichkeit einstellen, die Corona überall und nicht selten schmerzhaft der Gesellschaft derzeit abverlangt. Erkenntnisse neu bewerten, Tatsachen in neue Zusammenhängen stellen, offen dafür sein, wie Wissenschaft und Gesellschaft durch Politik einen machbaren, maßvollen und möglichst menschlichen Weg aus der Pandemie finden. Übrigens eine der vornehmsten Forderungen Steiners: Gerate nie in die Knechtschaft einer Idee (oder Ideologie, siehe »Philosophie der Freiheit«). Aber so weit hat Rapp bei seiner Lektüre von 5965 Vorträgen und den vielen Büchern nicht gelesen.

Er beweist lieber schlüssig am Ende seiner Kurzbiographie mit rhetorischem Salto doppelt rückwärts, dass Anthroposophen immer entweder nur unter Zwang handeln oder eben unehrlich sind oder beides oder umgekehrt – auf jeden Fall sind sie alle doof. Aber Gott sei Dank soll man nicht vergessen: es gibt auch noch die anderen.