Inklusion im Schafspelz

Martin Cuno

Der Arbeitskreis Inklusion wirbt »Für eine Inklusion mit Augenmaß«. In gegenüber früheren Veröffentlichungen deutlich zurückhaltenderem, ausgleichendem Ton geht es zunächst um unzureichende Umsetzungsbedingungen, um Missverständnisse und Verkürzungen von »Inklusion«. Fast hat es den Anschein, der Arbeitskreis mache sich jetzt zum Anwalt der Förderschulen, wenn er etwa vorschnelle Schließungen beklagt.

Dieser Schein trügt. Denn die großen Gesten, mit denen der Text anhebt (»große menschheitliche Intuition«, »Spannungsfeld von Geist und Materie«) und der missionarische Zukunftsblick finden ja nicht im luftleeren Raum statt, sondern vor dem Hintergrund des radikalen Verständnisses von »Inklusion«, das wir auch diesmal wiederfinden.

Radikalität, durchaus positiv zu sehen, sucht nach der Wurzel (radix) der betreffenden Sache. Radikale Inklusionsverfechter sehen offenbar die Wurzel des Menschen im Räumlichen, im Materiellen. Die Rede von »Exklusion« und »Inklusion«, also »Ausgrenzung« und demnach auch »Eingrenzung«, die grafische Zuordnung von Menschen als farbigen Pünktchen zu Kreisen wie in der verbreiteten Wikipedia-Grafik, die Rede von Parallelwelten versus einer »Mitte der Gesellschaft«, zu der man zu gehören habe: räumliche Metaphern, die partiell hilfreich sein können. Ob aber solch schlichte Figuren wie eben »Inklusion« das umfängliche Wesen des Menschen einschließlich seiner geistig-seelischen Bedürfnisse und seiner Selbstbestimmung umfassen können, ob sich also beispielsweise »Teilhabe an Bildung« (wie es Art. 24 UN-BRK fordert) oder auch das grundsätzliche Problem des Zugehörigkeitsgefühls (zur Gesellschaft, zur Menschheit) auf ein räumliches Schema reduzieren lässt, daran scheiden sich die Geister.

Das Heil radikaler Inklusion wird gemeinhin im bedingungslosen räumlichen Miteinander verschiedenster Menschen gesehen. Im Bildungsbereich fordert man entsprechend die »Eine Schule für Alle«. Auch der Arbeitskreis Inklusion hing früher dieser Formel an. Jetzt drückt man sich vorsichtiger aus und legt die Betonung auf das, was moderne Schule, im Unterschied zur früheren Katheder-Lehranstalt, heute zum Teil ist, zum Teil sein will oder werden sollte: ein Lebensort für junge Menschen. Das ist sympathisch und unverfänglich.

Doch die »Eine Schule für alle« auszutauschen gegen den »Einen Lebensort für alle«, an dem die »Grundlagen der Inklusion gelegt werden«, weil »sich dort alle Kinder und Jugendlichen begegnen und beheimatet fühlen«, nimmt der früheren Radikalität nichts weg. Und wer die UN-BRK gelesen hat, sieht den Arbeitskreis Inklusion sich damit zusätzlich in Widersprüchlichkeit verwickeln: denn gerade was das Zusammenleben betrifft, fordert Art. 19, dass Menschen mit Behinderungen, wie alle andern auch, »gleichberechtigt die Möglichkeit haben, ihren Aufenthaltsort zu wählen und zu entscheiden, wo und mit wem sie leben«. Dass dies aus Sicht der radikalen Inklusionsverfechter nicht für die Schule gelten soll, war schon immer befremdlich – und ein trauriger Beleg dafür, dass Schule, weil traditionell staatlich organisiert, stets für den Versuch herhalten muss, fremdbestimmte Systemänderungen von oben her durchzuführen.

Auch wenn die Bedingungslosigkeit des räumlichen Miteinanders abgemildert wird durch das Angebot »geschützter Rückzugsräume« für einzelne Kinder, ändert dies die Sachlage nicht. Es wirkt gekünstelt, dass diese Rückzugsräume deswegen nicht unter Exklusionsverdacht fallen, weil etwa »Überflieger« sie genauso benötigen könnten wie die Kinder mit Behinderung. Das Problem, dass sich Schüler vielleicht gerade in sogenannt inklusiven Schulen, mit oder ohne exklusive Maßnahmen, ausgegrenzt fühlen (wie es z.B. jüngst der Studie der Universität Potsdam zu entnehmen ist), bleibt unbeachtet. Und es bleibt rätselhaft, warum eine Förderschule das geforderte Zugehörigkeitsgefühl nicht bieten können soll.

Es wäre zu wünschen, der Arbeitskreis Inklusion, der sich offenbar als waldorf-nah definiert und insofern die Belange eines freien Schulwesens nicht unberücksichtigt lassen sollte, würde seine Leserschaft einmal aufklären über sein Verhältnis zum »Staat« im Zusammenhang mit Bildung. Einerseits bedauern Eichholz und Trautwein, dass der Staat mit seinen »Bildungsstandards und Lehrplänen« die »Inklusion« zu einer Unterrichtsform »geschrumpft« hat. Andererseits benötigt man die staatlichen Selektionsregeln als Feindbild, um überhaupt die obligatorische These von der »Ausgrenzung« aufrecht erhalten zu können. Auch die beliebte Rhetorik von der »Anpassung« des Systems an die Kinder, nicht umgekehrt, macht nur vor diesem Hintergrund unflexibler Leistungsauslese den gewünschten Sinn. Denn ginge es um Pädagogik oder »Geistesleben«, könnte man bei Förderschulen als für bestimmte Kinder »angepassten Systemen« landen…

Vor allem aber ist die angestrebte Verwirklichung radikaler Inklusion vom Gedanken und von der Praxis her nicht ohne Staat zu machen: die Einbeziehung »aller« Kinder (auf Nachfragen, wer mit diesen »allen« gemeint ist, erfolgt nie eine Antwort) basiert unhinterfragt auf der Vorstellung staatlicher Schuleinzugsbereiche.

Ein freies Schulwesen auf der Basis individueller Vereinbarungen aller Beteiligten kann sich von einem solchen Zwangs-Inklusionssystem natürlich nicht vereinnahmen lassen. Dass der Arbeitskreis Inklusion hier eine andere Auffassung hat, wurde im März 2015 auf drastische Weise klar, indem er in einem Diskussionspapier ernsthaft den Vorschlag machte, der Staat möge auch die freien Schulen gesetzlich dazu zwingen, sich in »inklusive Schulen« umzugestalten. Der Vorschlag wurde zwar auf Protest hin zurückgezogen, doch entspricht er der Rechtsauffassung, die verschiedentlich geäußert wurde: der menschenrechtliche Anspruch eines Kindes auf »Inklusion« stehe sowohl über dem elterlichen Schulwahlrecht als auch über der Vertragsfreiheit der freien Schulen. Indem dann noch ein umgekehrter Anspruch des Kindes auf »Exklusion« verneint wird, indem also aus dem Recht auf »Inklusion« ein Zwang wird, wird dieses Denksystem hermetisch dicht. Jeder mag selbst beurteilen, was dies noch mit Menschenrecht zu tun hat.

Der Versuch, die Schulen zu bevormunden, tritt nicht mehr in skandalöser Offenheit auf, sondern im Schafspelz wohlgefälliger Formulierungen, wenn der Arbeitskreis feststellt: »Sofern nicht Kindergärten und Schulen von Anbeginn inklusiv gegründet werden, kann es (…) nur um einen Prozess der Annäherung an die Vision der Behindertenrechtskonvention in einer Vielzahl kleiner Schritte gehen, also um die allmähliche Verflechtung und Weiterentwicklung der bestehenden Einrichtungen.«

Die Waldorf-Förderschulen sind gerade in diesen Wochen dabei, den selbstbewussten Standpunkt zu formulieren, dass ihre Arbeit sehr wohl dazu geeignet ist, den menschenrechtlichen Anspruch auf Bildung eines Kindes nach Art. 24 UN-BRK vollgültig zu erfüllen – und dabei, so darf man mit Eichholz’ Worten und im Hinblick auf den Gesamtimpuls der UN-BRK ergänzen: »das Gefühl gesellschaftlicher Zugehörigkeit konkret erlebbar zu machen«.

Das bedeutet also: Es gibt keine menschenrechtliche Präferenz für »inklusive« Schulen, gegen Förderschulen. Punkt.

Wer bisher, aufgrund von Medienberichten oder von Mitteilungen des Arbeitskreises Inklusion, den Eindruck hatte, »Inklusion« beabsichtige die Abschaffung oder auch Umwandlung von Förderschulen, mag verwundert sein. Er mag die UN-BRK auf »Inklusion« befragen, sie dort so nicht finden und damit als das entlarven, was sie von Anfang an (in diesem pseudowissenschaftlichen Kontext) war: keinesfalls ein Schlüsselbegriff der (weithin ungelesenen) UN-BRK, sondern ein Schlagwort, das diesem Menschenrechtsdokument von ideologisch motivierten Kreisen in der Diskussion aufgepfropft wurde, um eigene Zwecke wie die Abschaffung von Förderschulen zu verfolgen.

Dass der Arbeitskreis Inklusion dies ganz anders sieht, hat sich in Diskussionen, an denen ich beteiligt war, bestätigt. Das für den Arbeitskreis konstitutionelle Vorverständnis von Inklusion und seine Arbeitsintention erwies sich als gänzlich inkompatibel mit dem oben zitierten Selbstverständnis der heilpädagogischen Schulen. Daraus folgt, dass man seitens dieser Schulen keine Möglichkeit und keinen Anlass sieht, sich am Arbeitskreis zu beteiligen, und dass man zugleich die Gremien, die die Waldorfpädagogik insgesamt vertreten, mit Nachdruck bittet, öffentliche Stellungnahmen des Arbeitskreises Inklusion in der Zukunft nicht mehr als Positionen der Waldorfbewegung insgesamt darzustellen. Diesbezüglich klären sich also langsam die Verhältnisse. Dass man sich wieder zu einer effektiven und offensiven Interessenvertretung freier Schulen durchringt, nämlich diesmal gegen den allgemeinen ideologischen »Inklusions«-Druck, bleibt zu hoffen.

Um nicht in den Geruch des Gegners einer bestimmten Schulform zu kommen, muss ich abschließend wohl betonen, dass die praktische Arbeit des Projekts »Entwicklungsimpulse durch inklusive Pädagogik« selbstverständlich zu begrüßen ist. Pluralismus gehört ja zur Grundausstattung des Waldorfmenschen, das stand bisher außer Frage. Eine Schule wie die Windrather Talschule war in der Waldorfbewegung seit 20 Jahren geehrt und geachtet, und kein überzeugter Förderschul-Freund wäre auf die Idee gekommen, ihr ihre Existenzberechtigung abzusprechen. Schade, wenn das jetzige Projekt begleitet würde von einer Voreingenommenheit gegen Andere, die weder aus der Waldorfpädagogik noch aus menschenrechtlichem Denken abgeleitet werden kann.

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