Peripherie

Kinder, Rosen und ein Rollator

Ute Hallaschka

Unten im Garten steht eine edle Duftrose, von der Gärtnerei Goethe genannt. Dann kam Paula zur Welt, in der Nachbarschaft auf Erden gelandet. Kaum dass sie laufen konnte, wollte sie die Namen sämtlicher Pflanzen wissen. Bald marschierten wir gemeinsam durch den Garten. Es war klar, dass viele Geschöpfe zu einer Familie gehörten, jedes Schöllkraut hieß eben Chelidonium – Botanikerin Paula bevorzugte stets die klangvollere Variante. Nur Rose Goethe trug einen individuellen Namen.

Bücher liebte Paula ebenso wie Blumen und kam oft zum Vorlesen. Eines Tages fiel ihr die kleine Kassette am prominenten Platz auf der Fensterbank ins Auge. »Warum stehen die da?« Im Gespräch mit Kindern versuche ich es mit der leichtesten Version der Wahrheit. »Die Bücher liebe ich, die hat Schiller geschrieben, das war der beste Freund von Goethe.«

Das nächste Mal im Garten stellte Paula den anderen Kindern die Pflanzen vor. »Das ist Goethe und ihre Freundin heißt Schiller.« Ich war so baff, dass es mir die Sprache verschlug. Umstandslos hatte Paula die Rose zum Kunstwerk erhoben und der weibliche Artikel des grammatischen Geschlechts sorgte problemlos für die schillernde Verwandlung der Person. Ich war begeistert.

Neulich erfuhr ich die kreative Kraft der Kinder im leiblichen Zusammenhang. Paula, Karla und Martha sind ein Kleeblatt, das täglich neue Überraschungsblüten entfaltet. Mit ihren Rollern fuhren sie neben dem Rollator des schmerzgeplagten Mütterchens die Straße entlang. »Guck mal«, fiel Paula ein, »ich hab auch einen Rollator.« Sich über das Gestänge hängend, bewegten sich die drei bald exakt im Tempo und Gleichschritt – mühsam, langsam, schwerfällig – mit der Gangart der 85jährigen. Am Ende wurde Ernst aus dem Spiel, was es ja immer ist – »Mir tun die Arme so weh«, sagte Karla. Das Kind hatte sich wahrhaftig in die körperliche Situation so eingefühlt, dass buchstäblich Mitleiden eintrat. Das, was geschieht, wenn die Stützkraft der Wirbelsäule nachlässt und die Beine nicht mehr tragen – muskuläre Verspannung in Schultern und Armen. Ein Krankheitsbild des höchsten Alters spielerisch imaginativ im kindlichen Vitalkörper nachempfunden – wenn das nicht Kunst ist. Die Kunst der Menschlichkeit, des Verständnisses, der Heilung, der Liebe zum Leben.

Ute Hallaschka ist freie Autorin.

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