Lehren und lernen in der Erwachsenenbildung

Sophie Pannitschka

Wie fördert man individuelle Lernprozesse im Erwachsenenalter? Was macht das Lernen eines Erwachsenen aus und was müssen Lehrkräfte in der Erwachsenenbildung können? Die Spannung zwischen Leben und Lernen ist ein Balanceakt zwischen Kontinuität und Veränderung. Auf der einen Seite bin ich als Individuum dazu aufgerufen, meine Identität zu entwickeln und zu festigen, auf der anderen Seite muss ich offen und flexibel für Neues sein.

Kein Lernprozess kann ohne Veränderung der Identität stattfinden, denn Lernen bedeutet immer, in innerer Bewegung und damit in Veränderung zu sein.

Voraussetzung für Lernprozesse ist das Leben, das mir als Individuum geschenkt wird. Etymologisch ist das Verb »leben« verwandt mit »bleiben« im Sinne von »nicht tot sein«. Die menschliche Ausgangsposition hat also mit Beständigkeit zu tun, die eine gewisse Kontinuität voraussetzt und nach ihr strebt.

Im Gegensatz zur ursprünglichen Bedeutung des Wortes »leben« gehört das Verb »lernen« zu »leisten«, was bedeutet »das verstreut Umherliegende aufsammeln«, »Spuren verfolgen«. Damit ist ein pointierter Grundgegensatz zwischen Leben und Lernen benannt: Leben heißt im übertragenen Sinn, der zu bleiben, der ich bin und Lernen, sich auf neue, unbekannte Spuren zu begeben, die mich verändern.

Die vermittelnde Instanz zwischen den beiden Polen des Festhaltens und des sich Veränderns ist die Kunst. Über künstlerische Prozesse werden Ebenen betreten, die Verbindungslinien zwischen dem Bekannten und dem noch Unbekannten herstellen.

Die sieben Lebensprozesse (Atmung, Erwärmung, Ernährung, Absonderung, Erhaltung, Wachstum und Reproduktion) stehen uns auch als Seelenkräfte zur Verfügung und können für Lernprozesse produktiv verwendet werden. Alles, was in den ersten Jahren des Lebens physisch errungen wird, kann im Jugend- und Erwachsenenalter ins Seelische und Geistige transformiert und aktiv »genutzt« werden. Coenraad van Houten (1922-2013) hat sich in Jahrzehnte währender Arbeit mit dieser Transformation beschäftigt und eine Erwachsenenbildung begründet, die die von Steiner beschriebenen sieben Lebensprozesse in aktive und bewusste Lernschritte für den Erwachsenen überführt. Aus der Atmung wird im Lernprozess die Wahrnehmung und aus der Erwärmung entsteht das Interesse an einer Sache; aus der Ernährung wird ein seelischer Verarbeitungsprozess und aus der Absonderung die Individualisierung des Lernstoffes. Die physische Erhaltung wird zur Übung einer neuen Fähigkeit, Wachstum zu Transformation und schließlich die Reproduktion zur eigenständigen und lebendigen Kreativität.

Zu Beginn des Erwachsenenalters haben sich die Lebensprozesse so weit eingespielt, dass der Mensch in der Lage ist, diese Kräfte bewusst für das eigene Lernen einzusetzen. Wenn der siebte Schritt vollbracht ist, also tatsächlich etwas gelernt wurde, hinterlässt dieser Lernprozess Spuren, denen dann wieder jemand folgen und aus ihnen lernen kann. Leben und Lernen gehören zusammen. Gemeinsam tragen sie dazu bei, dass der Mensch sein Leben lang geistesgegenwärtig, kreativ und entwicklungsfähig bleibt.

Nun ist die Frage, wie Lehrkräfte in der Erwachsenenbildung diesen individuellen Prozess unterstützen und begleiten können. Diese können sich in drei Bereichen schulen, um einen erwachsenengerechten Lernprozess zu fördern: Einerseits ist es das Lernen selbst. Was wäre ein Lehrender, der die Fähigkeit zu lernen nur rudimentär beherrscht, der sich nicht weiterentwickeln will, sich nicht verändern mag, weil er zufrieden mit sich und seiner Lehre ist? Es gilt, den Entwicklungswillen, den alle Lehrenden brauchen, wach und aktiv zu halten. Nicht nur für andere, auch für sich selbst.

Lernen heißt stets auch, Hindernisse zu überwinden und es kostet mitunter Mühe, gewohnte Bahnen zu verlassen. Die künstlerische Arbeit bietet dafür einen Raum, zu dem jeder einen Zugang finden kann. Jeder einzelne Lernprozess kann durch (sozial-)künstlerische Übungen geschult werden. Einige seien hier stellvertretend genannt: Der erste Schritt, die Wahrnehmung, kann zum Beispiel durch Naturbetrachtungen angeregt werden, durch kommunikative Verfahren des Beschreibens, durch Eigenwahrnehmungen in Bezug auf die Möglichkeit, etwas wertfrei, selbstlos zu betrachten und darzustellen. Ganz anders geartet sind Übungen für den zweiten Schritt, die Erwärmung. Hier ist ein Urteil, ein Statement gefragt. Hier geht es darum, sich zu positionieren. Malübungen bieten sich an, etwas Eigenes, »Schönes« zu produzieren, aber auch das Plastizieren kann helfen, um einen eigenen Standpunkt buchstäblich zum Ausdruck zu bringen. Manchmal sprechen die Hände eine klarere Sprache als der Kopf. Mitunter ist ja Mut gefragt, sich für etwas zu interessieren und dazu zu stehen. Manche möchten gerade diesen Schritt gerne überspringen, weil er von uns fordert, uns zu zeigen. Für den dritten Schritt, die Verarbeitung, bieten sich Gruppenübungen an: ein gemeinsames Bild malen, Bodysculpturing oder verteilte Aufgabenstellungen in einem künstlerischen Prozess. Erwachsenenbildnern sind keine Grenzen gesetzt, kreativ zu agieren und Übungen für die entsprechende Lerngruppe zu entwickeln. Der dritte Bereich ist die Begegnung und Kommunikation zwischen Erwachsenen. Sie gilt es, flexibel zu meistern. Die genuine Aufgabe von Erwachsenenbildnern ist es, Lernprozesse zu ermöglichen. Dazu gehören die Organisation, Raum und Zeit sowie die methodisch-didaktische Gestaltung einer Lehrveranstaltung, somit sind sie »Möglichmacher«. Aber sie sind stets auch Mitmenschen – und damit genauso Zeitgenossen wie die anderen Erwachsenen, mit biografischen Höhen und Tiefen, Sorgen, Nöten und Erfolgen.

Auf der mitmenschlichen Ebene ist Begegnung nur auf Augenhöhe möglich. Schließlich sind Erwachsenenbildner Diener ihrer Disziplin, ihres Fachs. Ihre Expertise wird nur dann fruchtbar, wenn sie selbst am Ball bleiben und ihr Fach überzeugend vertreten. Der bewusste Umgang mit den drei Ebenen des Ermöglichens, des Mitmenschlichen und des Dienens unterstützt den selbstbestimmt lernenden Erwachsenen.

In Anlehnung an Barbara Schellhammer könnte man ein Motto für Lehrkräfte in der Erwachsenenbildung formulieren: Wesentlich für die Lehre ist die Empathie. Je größer ihre Fähigkeit, die drei Ebenen bewusst zu handhaben, je ehrlicher und künstlerischer der eigene Entwicklungsweg, desto hilfreicher können sie wirken.

Zur Autorin: Sophie Pannitschka ist Lehrkraft für besondere Aufgaben am Institut für Waldorfpädagogik, Inklusion und Interkulturalität der Alanus-Hochschule für den Bereich Sprache und Literatur, Schreiben, Biographie und Erwachsenenbildung.

Literatur: P. Gelitz, A. Strehlow, Almuth: Die sieben Lebensprozesse. Grundlagen und pädagogische Bedeutung in Elternhaus, Kindergarten und Schule, Stuttgart 2014 | B. Schellhammer: Wie lernen Erwachsene (heute)? Eine transdisziplinäre Einführung in die Erwachsenenbildung, Weinheim 2017 | R. Steiner, Rudolf: Das Rätsel des Menschen und die geistigen Hintergründe der menschlichen Geschichte, GA 170, Dornach 1978 | C. van Houten, S. Pannitschka: Erwachsenenbildung als Willenserweckung. Methodik und Didaktik erwachsenengerechten Lernens, Stuttgart 2018