Menschenkundliches zum Fußball

Markus Karutz

Argumente gegen das Fußballspiel sind vor allem das Verhalten der Fans sowie die Behauptung, gegenüber anderen Sportarten sei das Spiel mit dem Fuß grob, es werde nur gegen den Ball getreten, es gebe ein beträchtliches Aggressionspotenzial, Regeln und Ablauf seien einfach und primitiv.

Demgegenüber wird – von Kennern der Materie – betont, dass das Spiel mit einem hohen Grad an Geschicklichkeit, Intelligenz und kreativer Phantasie einhergehe, dass ein guter Spieler sehr einfühlsam mit dem Ball umgehen könne und andere Sportarten – wie Handball erheblich verletzungsgefährlicher und härter seien. Die Aggressionen dieses Spiels seien nicht spezifisch, sondern Ergebnis der großen Masse an Zuschauern. Wegen der allgemeinen Beliebtheit des Spieles wird im Übrigen auf die soziologischen Folgen der Isolation im Freundeskreis und am Wohnort für diejenigen verwiesen, die nicht Fußball spielten.

Auf dieser Ebene der Argumentation, das muss zugegeben werden, besteht eigentlich kein triftiger Grund, das Spiel nicht in den Lehrplan aufzunehmen und es gegenüber anderen Ballsportarten wie Handball, Volleyball und Basketball zu diskriminieren.

Eine tragfähige Argumentation für oder gegen die Aufnahme des Fußballspielens in den Lehrplan der Waldorfschule muss sich an der fundamentalen Voraussetzung dieser Pädagogik orientieren. Die Lehrinhalte werden nicht wegen vordergründiger Nützlichkeit, dem Gefallen oder der sozialen Norm gewählt, sondern weil sie zur Entwicklung des Schülers zu einem selbstbestimmten, autonom aus Freiheit handelnden Individuum beitragen. Dabei sind die Gesetzmäßigkeiten der menschlichen Entwicklung ebenso ausschlaggebend wie der Inhalt selbst. Nicht bestimmte Fertigkeiten, Wissensinhalte oder körperliches Können sind für den Lehrplan entscheidend, sondern Ziele wie: lebenslanges Lernen, Selbstbewusstsein, Kritik- und Wandlungsfähigkeit sowie schöpferisch-kreatives Handeln aus Selbstbewusstsein.

Eine zweite Voraussetzung ergibt sich aus der Kenntnis der kindlichen Nachahmungstätigkeit. Hieraus resultiert die große Verantwortung aller in den ersten beiden Lebensjahrsiebten: Was an der Schule unterrichtet wird, bekommt einen normativen Charakter: Was unsere Lehrer für unterrichtenswert halten, ist wichtig, ist prägend. Stärker und bewusster als andere pädagogische Systeme bezieht die Waldorfpädagogik diesen Sachverhalt in die Unterrichtsgestaltung ein. Hieraus erwächst eine besondere Verantwortung den Lehrinhalten gegenüber.

Eine Frage der Körperhaltung

Rudolf Steiner wurde nicht müde, als charakteristische Trias einer Entwicklung zum Menschen die aufrechte Haltung, die Sprache und schließlich das Denken anzuführen. Durch die aufrechte Haltung erst kann der Kopf frei über dem Leib getragen werden, was die Voraussetzung für eine freie, sich der Welt gegenüberstellende Gedankenbildung ist, kann aber auch erst ein Kehlkopf entwickelt werden, der Sprache ermöglicht. Damit wird der Kopf dem Körper als Gliedmaß entzogen, sodass er im Regelfall nicht als Werkzeug verwendet wird, wie es bei fast allen Tieren der Fall ist. Durch die Aufrichtung wird andererseits eine Trennung zwischen den – ursprünglich vorderen – oberen und den ursprünglich hinteren – unteren Gliedmaßen vollzogen. Während der Fuß beim Menschen stärker als bei Säugetieren uniform nur zum Stehen und Gehen verwendet wird, sich ganz in die Schwere der Erde hineinstellt und seine Aufgabe das Tragen des Leibes ist, wird die Hand frei für alle nur denkbaren Verrichtungen. Keine Gliedmaßen im Tierreich sind so differenziert und polyvalent wie die menschliche Hand. Durch die Aufrichtung des Menschen wird also eine weitere Differenzierung in zusammenwirkende, aber unterschiedene Funktionsbereiche geschaffen: Der Kopf wird stärker funktionell vom Körper getrennt, und bekommt die Aufgabe zugewiesen, ruhig, kühl, distanziert die Welt zu erkennen und zu reflektieren. Die Gliedmaßen werden aufgeteilt in einen stärker erdgebundenen, in Funktion und Bewegungsumfang eingeschränkten Bereich und in einen befreiten, der menschlichen Willkür und seiner Gestaltungsfähigkeit dienstbaren Bereich. Kultur in jeglicher Form ist Folge dieser Auftrennung.

Die gesamte Pädagogik Rudolf Steiners baut auf der funktionellen Dreigliederung des menschlichen Organismus mit einem Nerven-Sinnes-System, das leibliche Grundlage des Denkens ist, einem Gliedmaßen-Stoffwechselsystem, das Grundlage des Wollens ist, und einem Rhythmisches System, das das Fühlen leiblich ermöglicht.

Diese Dreigliederung wird evolutiv aber erst durch die oben beschriebene Trennung vorher – beim Säugetier – vermischter Funktionen ermöglicht.

Das Fußballspiel wird hingegen durch zwei Aspekte wesentlich bestimmt:

Der Feldspieler ist genötigt, den Ball mit den Füßen oder mit dem Kopf zu spielen. Das heißt, der Fuß bekommt zu seiner weiterhin vorhandenen Aufgabe des Laufens und Fortbewegens zusätzlich die Aufgabe, den Ball gezielt und geschickt zu bewegen. Hierbei wird von guten Spielern ein bewunderungswürdiges Maß an Geschicklichkeit und Feingefühl entwickelt. Es handelt sich dabei um alles andere als nur um wüstes Treten nach dem Ball.

Aber gerade hierin kann man ein Problem erkennen: Der Fußballspieler macht eine Schulung durch, welche die Entwicklung der Evolution umkehrt: Der Fuß wird wieder zum geschickten, universell einsetzbaren, intelligent verwendbaren Gliedmaß entwickelt, während die Hände zur völligen Untätigkeit verdammt werden – sieht man mal vom Einwurf und den Fouls ab. Der Kopf wird wieder zum Gliedmaß, indem mit teilweise ungeheurem Können auch dieser Teil des Körpers in das Spiel einbezogen und der Ball mit großer Wucht durch ihn gespielt wird. Der Kopf erhält damit einen Bewegungsimpuls, der dem des Säugetieres entspricht und beim Menschen gerade zurückgebildet worden ist. Insofern wird durch den Fußball die in der Evolution gewonnene funktionelle Trennung funktionell wieder aufgehoben, eine rückwärtsgerichtete Entwicklung induziert – also das Gegenteil von dem, was in der Waldorfpädagogik methodisch angestrebt wird.

Daraus ergeben sich schwerwiegende Bedenken gegen eine Einführung des Fußballspiels als Lehrinhalt an der Schule. Wie der Einzelne sich außerhalb der Schule, »privat« verhält, fällt in den Bereich der individuellen Freiheit.

Zum Autor: Dr. Markus Karutz ist Arzt für Innere Medizin und niedergelassen im Tobias-Therapeutikum, Köln. Mitglied im erweiterten Vorstand der Gesellschaft Anthroposophischer Ärzte Deutschlands 1994- 2013; Mitglied in der Sachverständigenkommission für die Positivliste des Bundesgesundheitsministeriums 2000-2003; Mitglied der Kommission C am BfArM seit 2005.