Mit tierischem Eiweiß überfüttert?

Andre Weinandy

Als Arzt an der Filderklinik und Absolvent der Eugen-Kolisko Akademie für Anthroposophische Medizin in Filderstadt habe ich mich seit Jahren eingehend mit dem Thema Ernährung aus anthroposophischer Sicht beschäftigt. Die Grundaussage des Artikels von Frau Dr. Schäfer, dass die heutigen Formen der Ernährung wenig gesundheitsförderlich sind, kann ich nur unterstützen. Allerdings hat es mich sehr verwundert, welche Ansichten sie bezüglich der Protein- und Fettquellen aus tierischen Lebensmitteln hegt. Rudolf Steiner hat in sämtlichen Vorträgen und Artikeln, in denen Ernährung eine Rollte spielt, immer wieder darauf hingewiesen, welch schädigende Wirkung von tierischer Nahrung ausgeht, sowohl was den physischen Leib als auch den Astralleib und die Ich-Organisation betrifft.

»Nahrung aus dem Tierreich wirkt in ganz spezifischer Weise auf das Nervensystem und damit auf den Astralleib. Aber bei pflanzlicher Nahrung bleibt das Nervensystem unberührt durch etwas Äußeres … Dadurch aber durchströmen die Wirkungen seiner Nerven nicht fremde Produkte, sondern nur das, was in ihm selbst urständet. Wer weiß, wieviel im menschlichen Organismus vom Nervensystem abhängt, der wird verstehen, was das heißt. Wenn der Mensch sein Nervensystem selbst aufbaut, so ist es voll empfänglich für das, was der Mensch ihm zumuten soll in bezug auf die geistige Welt. Seiner Nahrung aus der Pflanzenwelt verdankt der Mensch das, dass er hinaufblicken kann zu den großen Zusammenhängen der Dinge, die ihn erheben über die Vorurteile, die aus den engen Grenzen des persönlichen Seins entspringen. Überall, wo der Mensch frei und unbekümmert aus den großen Gesichtspunkten heraus Leben und Denken regelt, da verdankt er diesen raschen Überblick seiner Nahrungsbeziehung zur Pflanzenwelt. Da wo der Mensch durch Zorn, Antipathie und Vorurteile sich hinreißen läßt, da verdankt er das seiner Nahrung aus der Tierwelt.« (1)

Ich frage mich: was wollen wir für unsere Kinder? Einen großen Überblick über die Dinge oder Zorn, Antipathie und Vorurteile? Die auch in pflanzlichen Nahrungsmitteln komplett enthaltenen essentiellen (notwendigen) Amino- und Fettsäuren reichen zur Deckung des Eiweiß- und Fettbedarfes des Menschen vollkommen aus. »Gesundes Pflanzeneiweiß, das ist dasjenige, wovon unser Körper sehr viel hat. Wenn wir Hühnereiweiß in unseren Körper hineinbringen, kann unser Körper schon ziemlich faul sein, ein träger, fauler Körper sein; er wird es leicht zerstören können, weil es leicht zerstört ist. Das Pflanzeneiweiß …, das ist für uns ganz besonders wertvoll.« (2)

»Heute, nicht wahr, sehen wir diejenigen Kinder, die man in den siebziger und achtziger Jahren (des 19. Jahrhunderts) mit Eiweiß überfüttert hat; die gehen heute mit Arterienverkalkung herum oder sind schon gestorben an Arterienverkalkung.« (3) Die heutige Ernährung enthält, bedingt durch den übersteigerten Fleisch- und Milchkonsum, ebenfalls zuviel Eiweiß (jeder Bundesbürger hat 2008 im Schnitt ca. 85 kg Fleisch gegessen!), wodurch sich die deutliche Zunahme der sklerosierenden Erkrankungen (Herzinfarkt, Schlaganfall) in immer jüngerem Alter erklären lässt. Die von Frau Schäfer geschilderte Zunahme von Symptomen falscher Ernährung lässt sich somit sicherlich nicht durch eine zu geringe Eiweißzufuhr aus tierischen Nahrungsmitteln erklären, sondern ist eher durch diese mitbedingt.

Durch Fleischnahrung werden die roten Blutkörperchen schwerer, das Blut insgesamt dunkler als bei Pflanzenkost. »Dadurch aber ist er gerade imstande, vom Ich aus den Zusammenhang seiner Gedanken zu beherrschen, während schweres Blut ein Ausdruck dafür ist, daß er sklavisch hingegeben ist an das, was seinem astralischen Leibe durch die Tiernahrung eingegliedert ist. … Der Mensch wird durch das Verhältnis zur Pflanzenwelt innerlich kräftiger. Durch Fleischnahrung gliedert er sich etwas ein, was nach und nach zu wirklichen Fremdstoffen wird, die eigene Wege gehen in ihm … Wenn die Stoffe in uns eigene Wege gehen, so üben sie gerade Kräfte aus, die hysterische, epileptische Zustände hervorrufen. Weil das Nervensystem diese Imprägnierungen von außen erhält, verfällt es den verschiedenartigen Nervenkrankheiten. So sehen wir, wie in gewisser Beziehung ›der Mensch ist, was er ißt‹«. (4)

Hierin zeigt sich, dass der von Frau Schäfer propagierte Nutzen von tierischem Eiweiß für das Nerven-Sinnessystem nicht belegt werden kann. Eine aktuelle Studie zeigt einen Zusammenhang zwischen dem Konsum von Fleisch und fettigen Milchprodukten und dem Risiko, an einer Alzheimer-Demenz zu erkranken. (8) Des weiteren konnte in einigen großangelegten Untersuchungen ein deutlicher Zusammenhang zwischen dem Konsum von Fleisch und dem Auftreten von Krebserkrankungen, v.a. des Darmes, gezeigt werden.

Welche Auswirkungen Fleischkonsum auf das Denken hat, schildert Steiner eindrücklich: »Wenn nämlich der eine Mensch Reis ißt und schnell mit seiner Verdauung fertig ist, dann bleiben gewisse Kräfte übrig, die ihm alsdann für seine Denktätigkeit zur Verfügung stehen. Ein anderer Mensch, der zum Beispiel Wildente ißt, und entsprechend längere Zeit zur Verdauung braucht, kann durchaus klug sein; aber wenn er Gedanken produziert, denkt in Wirklichkeit sein Bauch.«(5) »Eine Erfahrungstatsache wird vor allen Dingen diejenige, daß unsere physische Hülle an der tierischen Ernährung mehr zu tragen, mehr gleichsam mitzuschleppen hat als an der vegetabilischen Ernährung … Wenn ihm nun tierische Nahrung zugeführt wird, so zeigt sich diese tierische Nahrung … auch noch dadurch, daß sie erlebt wird wie etwas, was sich als ein starker Fremdstoff in den menschlichen Organismus eingliedert, was man fühlen lernt, wenn ein radikaler Ausdruck gebraucht werden darf, wie einen Pfahl, den man sich ins Fleisch hineingefügt hat.« (6 ) Wollen wir unseren Kindern das Mitschleppen dieser Fremdstoffe zumuten, indem wir sie dazu bringen, Fleisch zu essen?

Auch das Willensleben, das stark mit der Lernfähigkeit zusammenhängt, wird beeinflusst: »In dieser Beziehung erlebt man … die Erdenschwere der tierischen Nahrung mehr, als man sie sonst erlebt, und man erlebt vor allen Dingen die Tatsache, daß die tierische Nahrung das instinktive Willensleben anfeuert. Das Willensleben , das mehr unbewußt verläuft, das mehr in Affekten und Leidenschaften verläuft, das feuert die tierische Nahrung an. Es ist daher einer durchaus richtige äußere Beobachtung, wenn gesagt wird, daß kriegerische Völkerschaften mehr der tierischen Nahrung zuneigen als friedfertige Völkerschaften.« (6) »Daß die Menschen immer dogmatischer werden, gerade nur das überschauen können, in das sie hineingewachsen sind seit ihrer Geburt, hängt stark zusammen mit dem Übertreiben der tierischen Nahrung.« (7) Schaut man sich die zunehmende Gewaltbereitschaft in unserer Gesellschaft an, kann diese auch vor dem Hintergrund des zunehmenden weltweiten Fleischkonsums verstanden werden.

Schon in einem 1955 erschienenen Buch wurde erwähnt, dass »Fett- und Fleischreichtum in der Ernährung die Schilddrüsentätigkeit anregt und die Erregbarkeit des sympathischen Nervensystems erhöht. Kinderärzte beobachteten, dass eine überwiegend aus Fleisch, Eiern und Milch, also tierischen Eiweißträgern, bestehende Kost eine beträchtliche Nervosität mit sich bringt.« (9)

Noch ein Wort zu Fisch: In Fischen und Schalentieren können giftige Chemikalien nachgewiesen werden, deren Konzentration bis zu neunmillionenfach höher ist als die, die sich im verschmutzten Wasser befindet. Quecksilber, das besonders hochkonzentriert in Thunfischen und Schwertfischen zu finden ist, kann Hirnschäden verursachen, was gerade auch bei Kindern während des Wachstums katastrophale Folgen haben kann. Organische Quecksilberverbindungen wirken hauptsächlich auf das Nervensystem. Auch während der Schwangerschaft aufgenommenes organisches Quecksilber beeinträchtigt die Kindesentwicklung. Die Auswirkungen auf das Ungeborene sind in mehreren Studien gut untersucht worden. Kinder weisen eine im Vergleich zu Erwachsenen 5  bis 10-fach erhöhte Empfindlichkeit gegenüber organischem Quecksilber auf, die sich in motorischen und kognitiven Entwicklungsstörungen äußert: »Erste Symptome waren verzögertes Gehen- und Sprechenlernen. Bei vier- bis siebenjährigen Kindern belasteter Mütter wurden Hörverluste, erhöhter Muskeltonus in den Beinen, gesteigerter Sehnenreflex (nur bei Jungen) und Ataxie festgestellt. Die empfindlichsten Reaktionen wurden bei Siebenjährigen in neurophysiologischen Tests beobachtet (...).« (Kommision Humanbiomonitoring 1999). Veränderungen im Bereich von Aufmerksamkeit, Gedächtnis und Sprache traten bereits bei geringen Quecksilberwerten von Kindern auf. Pestizide wie DDT, PCB und Dioxin werden mit Krebs, Störungen des Nervensystems, Entwicklungsschäden beim Fötus und vielen anderen Gesundheitsproblemen in Verbindung gebracht. Außerdem können hohe Konzentrationen von Blei und Arsen gefunden werden. Wird der Verzehr von Fisch vermieden, sinken auch deren Spiegel im Blut. Die Aktualität der Problematik wird dadurch verdeutlicht, dass in Frankreich in der Mosel gefangene Fische wegen ihres toxischen PCB-Gehaltes seit einiger Zeit nicht mehr gegessen werden dürfen (10) und die rheinland-pfälzische Landesregierung eine Empfehlung herausgegeben hat, wonach von Fischen aus der Mosel und der Saar nicht mehr als 200 Gramm pro Monat gegessen werden sollten.

Diese Hinweise ließen sich beliebig fortsetzen bis hin zu unzähligen Studien, die die Vorteile einer vegetarischen Ernährungsweise auf Gesundheit und Entwicklung zeigen.

Ich kann mich nur wundern, dass bis heute weder die geistes- noch die naturwissenschaftlichen Ergebnisse unter den Ärzten, auch den anthroposophischen, kaum Verbreitung gefunden haben und weiterhin die Notwendigkeit tierischer Nahrungsmittel propagiert wird.


Hinweise:

Rudolf Steiner

1. Wo und wie findet man den Geist? GA 57, Vortrag Berlin vom 17.12.1908

2. Die Schöpfung der Welt und des Menschen , GA 354, Vortrag Dornach, 02.08.1924

3. Natur und Mensch in geisteswissenschaftlicher Betrachtung, GA 352, Vortrag Dornach 23.01.1924

4. Wo und wie findet man den Geist? GA 57, Vortrag Berlin vom 17.12.1908

5. Ursprungsimpulse der Geisteswissenschaft, GA 96, Vortrag Berlin 22.10.1906

6. Welche Bedeutung hat die okkulte Entwicklung des Menschen für seine Hüllen und sein Selbst, GA 145, Vortrag Den Haag 21.03.1913

7. Das Goetheanum, 14.Jg., Nr.47 , vorgesehen für GA 68,Vortrag Münschen, 08.01.1909

Andere Quellen:

8. Yian Gu et al. , Food Combination and Alzheimer Disease Risk, A Protective Diet Archives of Neurology/VOL 67 (NO. 6), PUBLISHED APRIL 12, 2010

9. Dr. med. E.Schneider, Nutze die Heilkraft unserer Nahrung, Saatkorn-Verlag Hamburg 1955

10. Trierischer Volksfreund (reg. Zeitung) vom 13.07.2009