Klassenzimmer

Handlungspädagogik als Ergänzung zur Waldorfpädagogik

Miriam Watson-Kastell
Kinder der Bienenklasse an der Apfelpresse

Es ist ein milder Septembertag und die Sonne scheint auf einen kleinen verwilderten Garten. In der Mitte sitzen ein paar Kinder und Erwachsene um einen Tisch und arbeiten fleißig – es werden Apfelringe zum Dörren vorbereitet. In einer anderen Ecke sammeln zwei Kinder Löwenzahn und füttern damit die Hühner in ihrem Auslauf. Hinter ein paar Büschen wird angeregt gewerkelt und beratschlagt – aus alten Ästen entsteht eine kleine selbstgebaute Hütte. An der Feuerstelle repariert ein Mann die alten, morschen Sitzbänke und wird dabei von einem Mädchen beobachtet, das sich bald mit den Worten «Ich helfe dir mal!» dazugesellt.

Dieses Idyll beschreibt einen der vielen schönen Tage, die die handlungspädagogische Kleinklasse der Freien Waldorfschule Marburg bereits erlebt hat. Nachdem die Handlungspädagogik schon seit einigen Jahren immer wieder von interessierten Kolleg:innen thematisiert wurde und gleichzeitig die bis dahin üblichen Klassen mit 35 bis 40 Schüler:innen zunehmend in Frage gestellt wurden, beschloss die Schulleitung für das Schuljahr 2022/23, das im Vorspann umrissene neue Modell zu erproben. Als Klassenlehrerin der 1B (Bienenklasse) wage ich mich nun gemeinsam mit den Kindern auf unbekannte Wege, denn für eine Schule im städtischen Raum muss die Handlungspädagogik ganz anders gedacht werden.

Der Alltag der Bienenklasse wird nicht durch einen Stundenplan, sondern durch sich wiederholende Abläufe und Rituale geprägt. Nach einer kurzen Ankommensphase findet im Klassenzimmer der Hauptunterricht statt, es gibt eine Frühstückspause und dann beginnt – meistens draußen – die Schaffenszeit, die oft mit einer kurzen Phase im Klassenzimmer beendet wird. Ich bin in der Regel den gesamten Vormittag in der Klasse, so dass die Länge der einzelnen Abschnitte an die Bedürfnisse und die Tagesform der Kinder, aber auch an die Wetterlage angepasst werden kann. Sämtliche Fächer, die normalerweise in unseren ersten Klassen unterrichtet werden, finden ihre Berücksichtigung. So gibt es zwar keinen Fremdsprachenunterricht, aber einmal wöchentlich findet entweder ein englischer oder französischer Unterrichtstag statt. Hierbei bleibt die gewohnte Tagesstruktur erhalten, aber der komplette Tag findet auf Englisch oder Französisch statt.

Es gibt Fachkolleg:innen für die praktischen Fächer, die uns regelmäßig unterstützen und so können manchmal sogar verschiedene Tätigkeiten für die Schüler:innen angeboten werden. Gemeinschaftliches Tun wird geübt, aber oft dürfen die Kinder selbst wählen, ob sie mitmachen, sich eigene Aufgaben suchen oder spielen. Besonders in unserem Klassengarten ist hierfür ein idealer Rahmen gegeben. Obwohl uns kein Bauernhof zur Verfügung steht, haben wir bereits eine Vielfalt an kleinen Projekten durchgeführt: es wurde zum Beispiel in einem Gartenhäuschen eine kleine Werkstatt und eine Garderobe eingerichtet, Äpfel wurden gesammelt und in vielerlei Form verarbeitet, es wurden Dinge repariert, mit Wolle, Ton und Speckstein gearbeitet und Kuchen gebacken. Dabei richten sich die anfallenden Aufgaben vor allem nach dem Jahreslauf und dem, was an realen Notwendigkeiten entsteht. In Zukunft sollen Kontakte zu externen Fachpersonen und außerschulische Lernorte das Spektrum unserer Möglichkeiten erweitern.

Ich habe als Fachlehrerin für Englisch in der ersten bis achten Klasse viele Jahre die Not einzelner Kinder gesehen, denen das reguläre Angebot eines Schultages wenig Möglichkeit zur Entfaltung bot. Die Rahmenbedingungen haben sich seit der Gründung der ersten Waldorfschule massiv verändert, die Waldorfpädagogik ist jedoch in vielen Aspekten nur kleine Entwicklungsschritte gegangen. Ich denke, dass es sich Schulen angesichts der physischen und seelischen Probleme vieler Kinder nicht mehr leisten können, den Gesichtspunkt der Gesundheit ihrer Schüler:innen außen vor zu lassen. Gleichzeitig ist es mithilfe der Neurowissenschaften einfacher denn je, die von Rudolf Steiner bereits angedeuteten Wege zu nachhaltigem Lernen zu verstehen.

Für mich ist die Handlungspädagogik eine zukunftsweisende Weiterführung der Waldorfpädagogik. Wenn es gelingt, räumlich und zeitlich unabhängiger zu agieren, kann sich Unterricht viel konsequenter an den Kindern orientieren und Lernen so individuell wie möglich stattfinden. Durch Erwachsene, die das Ergreifen von Aufgaben, die Übernahme von Verantwortung und einen liebevollen, respektvollen Umgang mit der Erde und den Menschen vorleben, wächst außerdem eine Generation heran, die den zukünftigen globalen Herausforderungen gewachsen sein wird.

Wahrscheinlich gibt es an vielen Waldorfschulen den Wunsch, etwas zu verändern, oft scheitern die Vorhaben nicht an pädagogischen Gründen, sondern an der Sorge, ob sie überhaupt machbar und finanzierbar sind. Eine Kleinklasse bedeutet zunächst eine größere finanzielle Belastung, die sich voraussichtlich ab der Mittelstufe relativiert, wenn bei den größeren Klassen in vielen Fächern halbiert oder gedrittelt wird. Auch der Bedarf an zusätzlicher Förderung einzelner Schüler:innen sinkt unter Umständen, wenn im Rahmen des normalen Unterrichts mehr individuelle Förderung möglich ist.

Die Handlungspädagogik greift viele Aspekte der Bildung für nachhaltige Entwicklung auf und eröffnet damit zahlreiche Möglichkeiten der Beantragung von externen finanziellen Mitteln. Von dem Lehrpersonal verlangt das Konzept Flexibilität, die Bereitschaft, sich als ganzer Mensch mit allen Fähigkeiten einzubringen und gegebenenfalls auch fachfremd zu unterrichten. Gerade junge Kolleg:innen könnten sich aber von diesem Aspekt angesprochen fühlen, da es auch eine große Gestaltungsfreiheit bietet. Um einen Ausfall der sehr zentralen Klassenlehrer:in aufzufangen, empfiehlt es sich, der Klasse eine FSJ-Stelle zuzuteilen, damit vertretende Kolleg:innen dann von einer Person, die die Klasse und ihre Arbeitsweise gut kennt, unterstützt werden können.

Eine Mitnahme der Eltern bei neuen Konzepten ist unerlässlich – bei uns hatten die Eltern die Wahl zwischen den beiden Klassen. Die Elternschaft der Bienenklasse trägt das Projekt nicht nur mit, sondern unterstützt mich in jeder Hinsicht tatkräftig und bringt viel an eigenen Fähigkeiten ein.

Täglich wagen wir uns weiter in unbekannte Gefilde vor und werden versuchen, unsere Reise möglichst ausführlich zu dokumentieren. Vielleicht hat mein kleiner Bericht Mut gemacht und wir können uns bald mit ein paar Weggefährten austauschen.

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