Schulautonomie. Pädagogik zwischen Selbstorganisation und Fremdsteuerung

Heiner Barz

Staatliche Schulen haben auch im Jahr 2021 kaum einen Cent, über den sie als Personal- oder Sachmittel eigenverantwortlich verfügen dürfen. Und die fehlende Eigenverantwortung in Budgetfragen ist nur die Spitze des Eisbergs, der aus einem immer engmaschigeren Netz an Dokumentations- und Monitoringroutinen besteht – wohlgemerkt: nach fremdbestimmten Kriterien und Maßstäben. Rechenschaftspflicht, neudeutsch: Accountability, ist an die Stelle von Selbstorganisation, Selbstevaluation und Selbstverwaltung getreten. Dabei waren sich Bildungsforschung und Schulpolitik einmal einig, wie wichtig Elemente der persönlichen Entscheidungsfreiheit und das Leitbild der Selbstorganisation auf Schulebene für gelingendes Lernen sind.

Ein Meilenstein der Bildungsreformbestrebungen hin zu mehr pädagogischer Eigenverantwortung und dezentraler Ressourcensteuerung war die berühmte Denkschrift der Kommission »Zukunft der Bildung – Schule der Zukunft«, die im Auftrag des damaligen NRW-Ministerpräsidenten Johannes Rau im Jahr 1995 vorgelegt wurde. Pauschalbudgets, die weitestgehend eigenverantwortlich bewirtschaftet werden sollten, wurden vorgeschlagen. Finanzierung und Bewirtschaftung der Schulen sollten sich an neuen Leitvorstellungen orientieren: »Eine Schule, in der Selbstgestaltung und Selbstverantwortung im Vordergrund stehen, sollte auch im Bereich der Mittelverwendung verantwortlich handeln können und müssen.«

Aus Autonomie wurde Rechtfertigungsdruck

In der Praxis sind eine an die jeweiligen lokalen Bedingungen und an die konkreten Schülerpopulationen angepasste Gestaltung des Schullebens und des Unterrichts wichtige Determinanten für den Schulerfolg. Ressourcenbezogene Entscheidungsbefugnisse vor Ort werden von vielen Bildungsforschern als wichtige Bedingungen gelingender Bildungsprozesse betrachtet. Die diesbezügliche Diskussion entwickelte insbesondere in den 1990er Jahren eine größere Reichweite (vgl. Altrichter et al. 2016). Es bestand die Hoffnung, z.B. durch eine höhere Identifikation der Akteure mit ihren Aufgaben und die Nutzbarmachung der vor Ort vorhandenen Praxisexpertise, eine Innovationsdynamik freizusetzen.

Wenngleich Begriff und Sache der Schulautonomie immer wieder auch kritisch bewertet wurden, bündelten sich in ihm geradezu paradigmatische Sichtweisen der Schuldiskussion. Neben der Personalautonomie, der pädagogischen Autonomie und der organisatorischen Autonomie wurde auch die Finanzautonomie als ein wichtiger Teilbereich diskutiert. Wenn man heute danach fragt, was aus diesem einstmaligen Aufbruch geworden ist, dann scheinen drei Beobachtungen relevant:

1. In der Bildungsforschung konnten sich die Stimmen vermehrt Gehör verschaffen, die sich vor allem auf die Risiken und die möglicherweise problematischen Begleit­erscheinungen einer Deregulierungspolitik konzentrieren, die sich also pro Zentralisierung und gegen verstärkte Kompetenzdelegation an die Akteure vor Ort positionieren (Nicolai & Helbig 2013). Derartige Kritik bezieht ihre Überzeugungskraft nicht zuletzt aus einem Argumentationsmuster, in dem jede wirtschaftliche Kategorie als für die Bildung angeblich grundsätzlich schädliche »Ökonomisierung« gebrandmarkt wird. Soziale Ungleichheit, bildungsbezogene Segregation und gesellschaftliche Entsolidarisierung sind die Chiffren, die auch noch die zaghaftesten Versuche einer Liberalisierung der Steuerungsmechanismen und Effektivierung der Ressourcenallokation diskreditieren sollen.

2. Dass das produktive Interesse am Thema »Schulautonomie« sich insgesamt stark rückläufig entwickelt, wird allein schon an der Zahl der einschlägigen Publikationen deutlich: Eine Recherche im Fachinformationssystem Bildung ergibt für das Jahr 1997 den Spitzenwert von 185 Treffern zum Suchwort »Schulautonomie«. Seither nimmt die Trefferzahl von Jahr zu Jahr ab. Demgegenüber zeigt die Analyse der Veränderungen im Schulrecht in den 16 Bundesländern hinsichtlich der Verwirklichung von Aspekten der Schulautonomie für die Jahre 1994 bis 2004, dass es eine massive Verlagerung hin zu Aspekten der Rechenschaftslegung (Accountability) gab (vgl. Abb.). Flankiert wird diese Neuakzentuierung, die man auch als Umdeutung des ursprünglichen Impulses bezeichnen könnte, durch verschiedenste Maßnahmen der Standardisierung und der externen Evaluation.

 

3. Es ist bestürzend, wenn man nach 30 Jahren Schulautonomie-Diskussion feststellen muss, dass sich für staatliche Schulen hinsichtlich der selbstbestimmten Verwendung finanzieller Ressourcen bis heute offenbar wenig verändert hat. Sieht man von den meist sehr begrenzten Mitteln ab, die hier und da über Fördervereine eingeworben und verwaltet werden, dann verfügen staatliche Schulen heute noch immer über kaum mehr als über das Budget für die Erneuerung der Schulbücher, die sie kostenlos ausgeben. So zeigen sich etwa im Hinblick auf das in den letzten Jahren verstärkt adressierte Thema Elternkooperation (vgl. Barz 2019) selbst für kleine Beträge wie die Finanzierung von Minijobs für »Stadtteilmütter« oder für ein regelmäßig mit Info-Angeboten angereichertes Elternfrühstück u.ä. oft unüberwindliche Barrieren. Über innovative Projektkonzepte können sich Schulleitungen zwar für eine begrenzte Zeit (z.B. für 6 Monate) Drittmittel an die Schulen holen – nach Ende der Projektlaufzeit fehlen in der Regel aber die Mittel für ihre Implementierung in den Regelbetrieb.

Aus »Die Schule neu denken« wurde »Die Schule neu lenken«

Für die staatlichen Schulen in Deutschland muss also festgestellt werden, dass die Programmatik der Schulautonomie zwar Denkschriften und Modellprojekte hervorgebracht – sich in der realen Praxis des Schulalltags indessen kaum etwas getan hat. Im Gegenteil scheinen die in den 2000er Jahren angestoßenen Reformen im Bildungswesen oft in die entgegengesetzte Richtung zu gehen: Viele Schulpraktiker sehen sich durch den immer größeren Verwaltungs-, Dokumentations- und Monitoring-Aufwand mit Aufgaben überlastet, die ihnen die Zeit und die Freiräume für das eigentliche pädagogische Handeln nehmen. Die seitdem mit hoher Schlagzahl durchgesetzten Reformen sind aus ihrer Sicht keine Antworten auf die real drängenden Probleme, sie verschärfen vielmehr die Belastungen. Die Tatsache, dass all diese sogenannten Bildungsreformen top-down durchgesetzt wurden, also ohne die an der Basis im Schulbetrieb Tätigen auch nur zu fragen, wird als weiterer Frustrationsfaktor erlebt (vgl. Henry-Huthmacher et al. 2013): Die praktischen Folgen der »Mess- und Vergleichswut« (Vergleichsarbeiten, Qualitätsanalysen) werden vor allem in dem Gefühl der Lehrer sichtbar, als »Befehlsempfänger« übergangen zu werden.

Wer sein pädagogisches Selbstverständnis auch auf Kategorien der Individualität, der fachlichen Neugier und des Situativen gebaut hat, der kann die immer engmaschigeren Vorgaben und das bürokratische Klein-Klein der systematischen Berichts- und Begründungspflichten kaum als Ermutigung verstehen. Die Schulen in freier Trägerschaft dürften gut beraten sein, sich ihre pädagogischen, organisatorischen und finanziellen Spielräume wo immer möglich zu erhalten. Und sich dem Zertifizierungs- und Akkreditierungsunwesen, dem Terror von Qualitätsmanagement und Rechenschaftspflichten nicht etwa auch noch in vorauseilendem Gehorsam zu unterwerfen.

Selbstregulierung und Partizipation statt Hierarchie und Fremdsteuerung waren zentrale Stichworte, die eine Verlagerung der primären Zuständigkeitsvermutung nach ganz unten in die Schulen vor Ort zur Grundlage hatten. Wenn wir heute auf derartige Reformbestrebungen der Prä-PISA-Ära zurückblicken, für die damals ein breiter Konsens in Bildungspolitik und pädagogischer Praxis zu bestehen schien, dann reibt man sich verdutzt die Augen. Denn aus »Die Schule neu denken« wurde »Die Schule neu lenken«.

Zum Autor: Prof. Dr. Heiner Barz ist Bildungsforscher an der Universität Düsseldorf.

Literatur: H. Altrichter, M. Rürup, M. & C. Schuchart: »Schulautonomie und die Folgen«. In H. Altrichter & K. Maag Merki (Hrsg.): Handbuch neue Steuerung im Schulsystem. Wiesbaden 2016, S. 107 – 149. | H. Barz: »Elternkooperation aus Sicht der Bildungsforschung«. In: H. Barz (Hrsg.): Bildung und Schule – Elternstudie 2019. Münster 2019, S. 55 – 68. | Bildungskommission NRW: »Zukunft der Bildung – Schule der Zukunft« – Denkschrift der Kommission beim Ministerpräsidenten des Landes Nordrhein-Westfalen, Neuwied 1995 | C. Henry-Huthmacher, E. Hoffmann & M. Bochard (Hrsg.): Eltern – Lehrer – Schulerfolg. Wahrnehmungen und Erfahrungen im Schulalltag von Eltern und Lehrer. Stuttgart 2016 | R. Nicolai, & M. Helbig: »Schulautonomie als Allheilmittel? Über den Zusammenhang von Schulautonomie und schulischen Kompetenzen der Schüler«. In: Zeitschrift für Erziehungswissenschaft, 16(2) 2013, S. 381 – 403.