Sinneserfahrung statt digitale Medien

Manfred Schulze

Sehr geehrte Frau Ministerin!

Das Bildungssystem soll durch eine Flutung der Schulen mit digitalen Medien die Kinder »fit für die digitale Welt machen«. Fünf Milliarden Euro sollen in den nächsten fünf Jahren zum staatlich subventionierten Kaufrausch bereitstehen.

Damit wollen Sie, Frau Wanka, die »Innovations- und Wettbewerbsfähigkeit unseres Landes« sichern.

Ob dieses Ziel auf diesem Weg erreichbar ist, kann man aus guten Gründen bezweifeln. Denn Wissen kann man überhaupt nicht in Medien lernen. Wirkliches Wissen entspringt immer der Erfahrung. Digitales »Wissen« ist immer bloß digital übermittelte Information oder eben auch immer mehr Desinformation. Den Unterschied kann ich aber innerhalb des digitalen Raumes gar nicht erkennen!

Innovationskraft oder Kreativität lernt man durch die Übung einer Kunst. Aber eine digital-trunkene Elite aus Wissenschaftlern, Medienleuten und Politikern steht zusammen und betet die Glaubenssätze der Informationsindustrie nach: Je früher der Umgang mit diesen Technologien einsetze, desto größer werde der Vorsprung im Lernen, im Beruf und sogar die kritische Distanz zu ihnen.

Das aber ist reine Ideologie. Das hat schon bei den teuren Sprachlabors nicht funktioniert! Selbst in ihrer Kindheit medienabstinente junge Menschen lernen als Studenten den Umgang mit Informationstechnologien und Programmiersprachen in kürzester Zeit. Und IT-Firmen suchen inzwischen solche nicht in digitalen Mustern gefangenen, kreativ denkenden Mitarbeiter.

Es handelt sich bei dieser »Bildungsoffensive« nicht um eine Steigerung von Bildung, sondern um eine mit viel Geld subventionierte Indoktrination mit einer maschinengewordenen Ideologie. Und diese Ideologie heißt: Die fiktionale Welt ist wichtiger und wirklicher als die sinnlich reale Welt.

Wirkliche Bildung hieße, eigenständiges Denken mit eigenständigem Handeln zu lernen; hieße Wertschätzung und Empathie den Arbeitsleistungen anderer Menschen gegenüber. Man muss den Sinn der Arbeit in den Bedürfnissen der anderen Menschen erfahren haben und aus dieser Motivation seine Arbeit tun. Und diese soziale Beziehung muss eine real erfahrene sein und keine in den sozialen Medien vorgetäuschte. Ebenso wichtig ist der sinnliche Zugang zu unseren realen Lebensgrundlagen und allen Lebewesen in der Natur. Ein Waldspaziergang ist Bildung, ein Film darüber ist es nicht!

Instrument statt Computer

Gaetano Benedetti hat am Anfang der 1970er Jahre entdeckt, dass die höheren Nervenfunktionen durch die zeitlich vorgelagerten leiblichen Handlungsprozesse geschaffen und gestaltet werden. Dieses Prinzip des »form follows function« hat in der Gehirnforschung mannigfaltige Bestätigung und Verfeinerung erfahren. Wenn aber Forscher wie Manfred Spitzer darauf verweisen, dass diese Erkenntnisse der modernen Hirnforschung zum kindlichen Lernen gänzlich unvereinbar mit der zum Lernen propagierten Digitaltechnologie sind, erlebt er wütende Polemik.

Es ist deshalb höchste Zeit, sich im Namen der Kinder dieser Ausschüttung von Geld und der nun auch noch schulisch betriebenen Verführung mit Digitalideologie zu erwehren. Kinder brauchen handgreifliche originale Erfahrungsräume, bevor sie »vermittelte« Bilder betrachten.

Also: Statt Computer zu kaufen, sollten Sie, Frau Wanka, jedem Kind ein Instrument mit Musikunterricht schenken und für die ganze Schulzeit jede Woche einen Tag auf einem ökologischen Bauernhof. Das wäre eine wirkliche Bildungsoffensive, die den Sinn der Kinder für den ökologischen Wandel und für zukünftige gemeinschaftliche Aufgaben öffnen könnte, eine Bildungsoffensive zur Rettung der Vielfalt und Kulturarbeit in den bäuerlichen Hofbetrieben. Das wäre ganz nebenbei eine Initiative zur Ausbildung kreativen Denkens und verantwortlichen Handelns. Und gesünder als sitzen ist es allemal.

Zum Autor: Dr. Manfred Schulze, Erziehungswissenschaftler und Landwirt