Unhaltbare Vorwürfe

Peter Lutzker

Der Beitrag über die Waldorfpädagogik in der »Zeit« (36/2019) unternimmt den wertvollen Versuch, die weltweite Ausbreitung der Waldorfpädagogik zu verstehen, indem er sich Waldorfschulen in ganz unterschiedlichen kulturellen und geografischen Kontexten anschaut. Leider sind die Autoren jedoch an zwei Stellen offensichtlich einem im Internet kolportierten Vorurteil aufgesessen, Steiner sei ein Antisemit und Rassist gewesen. Solche Aussagen können nur von Autoren stammen, die Steiners Leben, Wirken und umfangreichen schriftlichen Nachlass, der in ca. 400 Bänden enthalten ist, praktisch nicht kennen.

Unbestreitbar gibt es einige wenige überlieferte Zitate von Steiner, die aus heutiger Sicht unhaltbar sind und von denen sich die Waldorfschulen in ihrer »Stuttgarter Erklärung« auch ausdrücklich distanziert haben. Es stimmt aber auch, dass Steiner sich nicht nur durch sein Lebenswerk, sondern auch in seinen Vorträgen und Schriften immer wieder nachdrücklich gegen jede Form des Antisemitismus und des Rassismus ausgesprochen hat. Wer sich auch nur etwas Mühe macht und Steiners Leben und Schriften unvoreingenommen, d.h. wissenschaftlich betrachtet, findet beispielsweise in dem von Steiner verfassten Gründungsstatut der Allgemeinen Anthroposophischen Gesellschaft von 1923 die Sätze: »Die im Goetheanum gepflegte Anthroposophie führt zu Ergebnissen, die jedem Menschen ohne Unterschied der Nation, des Standes, der Religion als Anregung für das geistige Leben dienen können. Sie können zu einem wirklich auf brüderliche Liebe aufgebauten sozialen Leben führen. [...] Die Anthroposophische Gesellschaft ist [...] eine durchaus öffentliche. Ihr Mitglied kann jedermann ohne Unterschied der Nation, des Standes, der Religion, der wissenschaftlichen oder künstlerischen Überzeugung werden, der in dem Bestand einer solchen Institution, wie sie das Goetheanum in Dornach als freie Hochschule für Geisteswissenschaft ist, etwas Berechtigtes sieht.«

Es gibt zahlreiche Stellen in Steiners Werk, wo er sich ausdrücklich und mit schärfsten Worten gegen Antisemitismus ausspricht: Er sei die »Verhöhnung aller Bildungserrungen­schaften« der Neuzeit, er sei ein »Ausdruck von geistiger Inferiorität«, ein »Zeugnis der Abgeschmacktheit« und das »Gegenteil jeder gesunden Vorstellungsart«. Spricht so ein Antisemit? Es gibt ebenso viele Stellen, an denen sich Steiner deutlich von Rassismus distanziert. »Ein Mensch, der heute von dem Ideal von Rassen und Nationen und Stammeszusammengehörigkeiten spricht, der spricht von Niedergangsimpulsen der Menschheit.«

Seriöser Journalismus muss angesichts dieser Tatsachen den Vorwurf des Rassismus bzw. des Antisemitismus wenigstens problematisieren und auch diejenigen charakterisieren, die solche Behauptungen in die Welt setzen. Wenn man auf die Intention der Anthroposophie schaut, dann sind die genannten Vorwürfe unhaltbar. Es gibt inzwischen auch mehrere wissenschaftlich fundierte Ausarbeitungen, welche dies vielfältig und umfassend zeigen. Es wäre Pflicht der Autoren gewesen, auch solche Schriften zur Kenntnis zu nehmen.

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