Warum wir 12 Klassenstufen brauchen
Ist die Waldorfoberstufe noch zu retten? Geben wir in vorauseilendem Gehorsam und ohne Not ein Kernelement unserer Pädagogik auf, wenn wir uns immer früher auf staatliche Prüfungen vorbereiten? Jens Göken, engagiert in der Eltern- und Öffentlichkeitsarbeit sowie in Schulbibliotheken der Freien Waldorfschule in Sorsum, rät, das eigene Profil zu stärken, statt es freiwillig zu demontieren.
An der Sorsumer Waldorfschule haben wir in der elften Klasse eine Epoche, in der Eurythmie- und Werklehrer gemeinsam mit den Schülern arbeiten. Dadurch erhalten die Schüler die Gelegenheit, sich von unterschiedlichen Perspektiven aus mit der menschlichen Gestalt, mit ihrem eigenen Körper zu befassen. Die Ergebnisse dieser Arbeit werden öffentlich vorgeführt. So können wir die Schüler nicht nur beim Eurythmieabschluss in der Zwölften erleben, sondern auch schon in der Elften. Dabei stellen wir immer wieder fest, wie anders die Zwölftklässler auf der Bühne stehen, wie viel souveräner sie ihr Projekt ergreifen, so anrührend ihre Darbietungen in der elften Klasse auch gewesen sein mögen.
In Gesprächen mit Oberstufenlehrern verdichtet sich dieser Eindruck: Nachdem die Schüler meist mit neuem Elan in die Oberstufe einsteigen, stellen sie im Laufe des neunten Schuljahres ein erhöhtes Lernniveau fest, das nun eine ganz andere Ernsthaftigkeit von ihnen erfordert, und reagieren darauf häufig mit einem kräftigen Sich-Gehenlassen in alle Formen pubertärer Grenzüberschreitung. Da können Leistungen plötzlich extrem abfallen und sonst konstruktiv den Unterricht bereichernde Schüler ihre Mitarbeit verweigern. Im Lauf des neunten Schuljahres beginnt der Durchgang durch eine Talsohle, die in der zehnten Klasse ihren Tiefpunkt erreicht.
Manche Eltern meinen dann, der Schule die Schuld dafür geben zu müssen, und melden ihre Kinder ab. Es fällt ihnen schwer zu glauben, was die erfahrenen Lehrer ihnen deutlich zu machen versuchen: Dass das alles ein völlig normaler Entwicklungsvorgang ist, der sich »Pubertät« nennt – und dass die Schüler spätestens gegen Ende der elften, Anfang der zwölften Klasse »wieder da« sein werden. Jeder Oberstufenlehrer weiß, dass im Laufe der elften Klasse – bei Spätentwicklern zuweilen sogar erst im ersten Halbjahr der zwölften Klasse – die Schüler aus ihrer Wirrsinns-Phase wieder auftauchen und dann, wenn wir ihnen die Gelegenheit geben, diese Entwicklung zu durchlaufen, auf einmal ganz anders ansprechbar sind: Ernsthafter, mit aufscheinendem, eigenem Interesse, in dem sich schon eine eigene Persönlichkeit mit eigenen Fragestellungen und Motiven anzukündigen beginnt. Sie ergreifen die Lerninhalte, durchdringen ihre kräftig hin und her wogende Gefühlsorganisation und stellen sich mit ungeheurer Kraft und Intensität auf den Erdboden. So mancher Zuschauer hat mit vor Staunen offenem Mund den Eurythmieabschluss und das Klassenspiel der zwölften Klasse erlebt. Es zeigt sich, dass das zweite Halbjahr der zwölften Klasse günstiger für die Aufführung ist als das erste.
Diese Phänomene lassen sich Jahr für Jahr mit Händen greifen: Wir können erst in der zwölften Klasse den zwölfjährigen Erziehungsauftrag einer Waldorfschule als beendet betrachten und die einzelnen Schülerpersönlichkeiten ins Leben entlassen. Das Zwölf-Klassspiel, der Eurythmieabschluss und die Jahresarbeiten sind die modernen, zeitgemäßen Initiations-»Riten«, die diese letzte Schulabgangs-Reife impulsartig zur Entfaltung bringen und den eigentlichen Durchbruch der Individualität um das 21. Lebensjahr herum vorbereiten.
Erosion der Oberstufe – auf wessen Kosten?
Was aber beobachten wir in den letzten Jahren in der deutschen Waldorfschullandschaft? Dass ernsthaft auf »Angebote« des Staates eingegangen wird, die zwölfjährige allgemeine Menschenbildung abzuschaffen und unsere Schulen in elitäre Waldorfgymnasien zu verwandeln, an denen die »B-Schüler« entweder als zweiter Zweig geduldet oder bereits vor der zwölften Klasse verabschiedet werden. Wir können beobachten, dass sich Lehrerkollegien von ahnungslosen Eltern über den Tisch ziehen und mindestens eine oder zwei der drei oben genannten Reifeprüfungen in die elfte Klasse verschieben oder sogar ganz unter den Tisch fallen lassen, obwohl sie aus ihrer Lehrertätigkeit wissen, dass die Schüler dann noch nicht »so weit« sind, dass diese Impulse wirklich abrundend wirken könnten.
Dass in der deutschen Historie ein Staat versucht hat, grundsätzlich in das Gefüge der Waldorfschulen einzugreifen, hat es bisher nur einmal gegeben. Aber das Gesamtkonzept einer zwölfjährigen Menschenschule ist seither trotz vieler nervenaufreibender Verständigungsprozesse niemals so in Frage gestellt worden, wie es der Staat in den vergangenen Jahren getan hat.
Und dies paradoxerweise zu einem Zeitpunkt, an dem die Waldorfschulen sich auch nach außen hin sehr erfolgreich in der internationalen Bildungslandschaft zu positionieren vermochten, weil ja nicht zuletzt die Erfolgsrezepte des PISA-Spitzenreiters Finnland auf frappierende Weise dem ähneln, was in der Waldorfpädagogik schon seit 1919 praktiziert wird. Aber statt nun den Methoden Finnlands und eben auch der im eigenen Land weit verbreiteten Waldorfpädagogik weiter nachzuforschen, beginnt man, diese erfolgreiche Schulform Schritt für Schritt zu demontieren.
Von Seiten des Staates mag dies ein legitimes Anliegen sein, denn der Staat (der eigentlich mit der Organisation von Bildung nichts zu tun haben sollte, vgl. Mathias Maurer in Erziehungskunst-Spezial 10/2011, S. 3) – hat seine eigenen Kriterien und mag fordern, was er will: Das eigentliche Trauerspiel ist, dass wir als globale Gemeinschaft von Waldorfschulen auf diese uns eigentlich fremden Kriterien eingehen, statt mit aller pädagogischen Deutlichkeit zu begründen, warum wir uns als zwölfjährige Gesamtschule in die Welt gestellt haben und uns auch unbedingt als solche erhalten müssen!
Wer in der Oberstufe lehrt, weiß aus Erfahrung, dass das Arbeiten mit den Schülern etwa an der jüngsten Geschichte des 20. Jahrhunderts oder an moderner Romanliteratur erst in der zwölften Klasse so richtig auf den Punkt gebracht werden kann, dass erst dann die Qualität der Diskussion das Niveau erreicht, von dem ab man Reifezeugnisse ausstellen mag. Erst dann nämlich, gegen Ende des 3. Jahrsiebts, hat sich die Urteilsfähigkeit der jungen Menschen so weit entwickelt, dass ihr soziales Gewissen und ihr Idealismus sich in sozialer Initiative und einer freien Gestaltung des eigenen Lebensentwurfs ausleben kann, statt von einem systemimmanent korrupten Noten- und Prüfungs-Pragmatismus im Keim erstickt zu werden!
Ob dann noch ein dreizehntes Schuljahr zum Abitur führt, die Berufsschule oder eine Ausbildung folgen wird oder ob man sogar den Gedanken Wilhelm von Humboldts aufgreifen und eine allgemeinbildende erste Hochschulzeit als Menschenrecht für jeden ins Auge fassen sollte – das können und müssen wir den Schülern zur eigenen Entscheidung überlassen.
Aber bis dahin, bis zum Abschluss des zwölften Schuljahres, sollten wir ihnen eine von staatlichen Prüfungsnotwendigkeiten so wenig wie möglich korrumpierte allgemeine Menschenbildung im Sinne der »Allgemeinen Menschenkunde« zugute kommen lassen, die Rudolf Steiner als Zukunftsimpuls in die Wirren unserer geschichtlichen Übergangsepoche hineingestellt hat.
Elke Schlegel, Hamburg, 03.06.12 00:06
Herzlichen Dank für Ihre eindringlichen Worte, die hoffentlich auf fruchtbaren Boden treffen. Die Menschenkunde Rudolf Steiners ist heute aktueller denn je, damit Zukunft gelingen kann. Die staatliche " Ver/Bildung" und Vereinnahmung von Kindheit braucht Mut und liebevollen Widerstand.
Bewegte Grüße
Elke Schlegel
Michael Stukenberg, Ahrensburg, 11.06.12 09:06
Wenn wir versuchen den Lehrplan an staatlichen Abschlüssen und "Bildungsstandards" zu orientieren, verlieren wir unsere Existenzberechtigung. Wir haben in den 60er Jahre auch unser Abitur gemacht, aber die 12 Jahre Waldorfschule mit Waldorfpädagogik waren und sind mir immer wichtiger gewesen. So haben wir es auch bei unseren Kindern gehalten. Da lernt man was für´s Leben. Das Abi "qualifiziert" ja nur zum Studium, wo viele erfolgreiche Abiturienten in kürzester Zeit wieder raus geschmissen werden. M.E. wird das Abitur insbesondere von den Eltern völlig überbewertet, da es keinerlei Entwicklung zu Sozialverhalten fördert.
Birgit Dressel, Dresden, 21.06.12 17:06
Meines Wissens gibt es kein anderes Schulsystem, das Schüler über 12 Jahre aneinanderkettet – ohne Rücksicht auf individuelle Begabungen und Interessen. Vielleicht aus gutem Grund? Selbst Finnland führt sein Gesamtschulsystem nur bis zur 9. Klasse! Wer den zwölfjährigen Waldorflehrplan als das Maß aller Dinge betrachtet, verkennt, dass dieser an einem idealtypischen Schüler ausgerichtet ist. Ich selbst habe jedenfalls in den Abituranforderungen meine persönlichen Fähigkeiten und Interessen wesentlich besser widergespiegelt gefunden als im Waldorflehrplan, der mich intellektuell über Jahre hinweg unterforderte. Die einzelnen Prüfungsinhalte mögen fragwürdig sein, die entsprechenden Fächer sind es keineswegs. Was ist schlecht an Mathematik, Naturwissenschaften oder Sprachen? Niemand muss sich für diese Fächer interessieren, aber es muss sich auch niemand für den Wunsch entschuldigen, diese Fächer auf einem hohen Niveau lernen zu wollen.
Den Gesamtschulanspruch ernstzunehmen bedeutet, dass sich Schule nicht einseitig an den Bedürfnissen der Spätentwickler und Leistungsschwachen orientieren darf, während die Bedürfnisse der (intellektuell) Begabten unter den Tisch fallen. Auch diese Schüler gehören zur Waldorfschule, und sie haben dasselbe Recht auf Lernen und Entwicklung wie alle anderen auch. Warum sollen sprachliche, mathematische und naturwissenschaftliche Fähigkeiten weniger förderungswürdig sein als soziale, praktische und künstlerische? Herr Göken, warum diffamieren Sie Schulen, die intellektuellen Fähigkeiten wenigstens ansatzweise Raum zu geben versuchen, als ‚elitäre Waldorfgymnasien‘?
Selbstverständlich ist es sinnlos, wenn Prüfungsinhalte auf ein Vakuum geklatscht werden, weil in den Schuljahren zuvor versäumt wurde, solide Grundlagen zu legen. Kann es sein, dass ein Teil der geschilderten Schulmüdigkeit, die Schüler in den ersten Oberstufenjahren an den Tag legen, nicht nur pubertätsbedingt, sondern hausgemacht ist? Ich finde es jedenfalls bedenklich, wenn erst in der 9. Klasse Ernsthaftigkeit beim Lernen gefordert wird. Natürlich lassen sich Schüler in diesem Alter nicht mehr einfach zum Arbeiten bewegen, wenn sie bis dahin, wie einer meiner Mitschüler unserem Klassenlehrer zum Abschied schrieb, „Schule als Überbrückung der Zeit zwischen Frühstück und Mittagessen“ erlebt haben.
Herr Göken, Sie schildern sehr anschaulich, wie sich die zunehmende Reife der Schüler in der 11. und 12. Klasse zeigt. Reifer werden heißt aber doch auch, seine individuelle Persönlichkeit mehr und mehr zu entwickeln. Mir scheint, dass die Waldorfschule die „allgemeine Menschenbildung“ zu stark in den Vordergrund stellt und demgegenüber das Individuelle vernachlässigt oder gar ignoriert. Dass sich individuelle Eigenschaften während der Schulzeit nur rudimentär zeigen können, spricht Bände, wie wenig Entfaltungsraum diesen zugestanden wird. Um ‚eine freie Gestaltung des eigenen Lebensentwurfs‘ zu ermöglichen, ist es für jeden Menschen unabdingbar, die eigenen Stärken herauszufinden und zu entwickeln. Manche mögen sich in dem allgemeinen Waldorfprogramm wiederfinden. Für andere bedeutet es ein enges Korsett, das nichts anderes als ein blasses Einheitslila zulässt. M. E. sind zwölf Jahre Einheitsschule kein Ideal, sondern ein fauler Kompromiss, der Tatsache geschuldet, dass Waldorfschulen nicht die Möglichkeit haben, eine breite Profil- und Fächerwahl anzubieten. Kuschelige Mittelmäßigkeit, wie man sie an der Waldorfschule gerne sieht, wird dem Mittelmaß gerecht, denjenigen also, die weder besondere Begabungen noch besondere Schwierigkeiten im schulischen Bereich aufweisen. Im Sinne aller anderen sollte die Waldorfschule versuchen, so weit wie möglich Differenzierungsangebote zu schaffen, nach Interessen und auch – nach Leistung. Ebensowenig sollte sie die Schüler im „Wissen“, was für diese „gut“ ist, nachmittagelang vereinnahmen, so dass kaum noch Zeit und Energie für eigene Aktivitäten bleibt.
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