Klassenzimmer

Warum wir kleinere Klassen brauchen

Christine Holle

Lehrerin mag ich mich inzwischen kaum noch nennen. Ich sehe mich als Entwicklungs- und Lernbegleiterin und für mein Fach Sport als Bewegungspädagogin. Seit einigen Jahren arbeite ich zusätzlich als Assistenz und unterstützende Klassenbetreuerin in der Mittelstufe. Diese Arbeit im Klassenzimmer hat mich sehr bereichert. Meine Fragen zur Schule der Zukunft haben sich vermehrt und meine Wünsche werden konkreter.

Die Corona-Pandemie hat viele Probleme offengelegt und Strukturen und Systeme in Frage gestellt. Das über 200 Jahre alte Schulsystem hat sich ja nicht wirklich in den Grundfesten geändert. Auch die Waldorfschulen arbeiten vormittags mit einem Beginn um 8 Uhr bis zum Nachmittag im Stunden- oder Doppelstundenmodus.

Das Homeschooling hat alle Schulsysteme vor große Herausforderungen gestellt. Jede Schule hat, so gut wie es möglich war, nach eigenen Lösungen gesucht, um die Kinder zu erreichen und zu begleiten. Den meisten SchülerInnen hat sicher der gewohnte Rhythmus gefehlt. Jeder war herausgefordert, eine eigene Strategie für sich selbst zu suchen und zu finden. Hier wurde rasch deutlich: 40 Kinder = 40 Wege.

Das Lernen im Wechselunterricht, also eine Woche zu Hause, eine Woche in der Schule, war wiederum Neuland. Gefallen hat den meisten LehrerInnen – aber auch den SchülerInnen – die kleinere Arbeitsgruppe! Es gab mehr Zeit für die Begleitung des Einzelnen, die Atmosphäre war ruhiger und die Pause zu Hause war teilweise erholend (ich weiß, nicht unbedingt für alle Elternhäuser!).

In unserer Schule werden jährlich 38 Jungen und Mädchen in die 1.Klasse eingeschult. Im Fachunterricht wird die Klasse geteilt und in den künstlerischen Fächern sogar gedrittelt. Aber im Hauptunterricht sitzen die Kinder eben mit sehr vielen anderen zusammen. Früher war das auch so und früher ging es auch und früher war auch nicht alles schlecht. Das stimmt. Aber wir leben 2022 und für viele Kinder ist eine Gruppe von zehn Menschen schon eine große Gruppe (auch für Erwachsene übrigens!). Großfamilien gibt es auch heute, jedoch im Allgemeinen hat sich die Familienstruktur stark gewandelt: Patchworkmodelle, Berufstätigkeit beider Eltern, unregelmäßige Arbeitszeiten, Hortbetreuung, weite Anreisen zur Schule, viele weitere Erwachsene, die sich um das Wohl der Kinder und um die Organisation des Alltags kümmern. Jeder gibt sein Bestes, um alle Bedürfnisse zu sehen, zu befriedigen und zu unterstützen.

In einer Klasse mit 38 Kindern (oder meinetwegen auch »nur« 30 Kindern) sind es dann logischerweise achtunddreißig kleine und dann rasch älter werdende Persönlichkeiten, die ihre Bedürfnisse haben und immer mehr lauthals und vehement kundtun. Dazu kommen 38 Elternhäuser oder sagen wir besser, 38 Elternpaare, bestehend aus Vater und Mutter. 76 Erziehende, die jeweils das Beste für ihr Kind wünschen und wollen.

Jedes Kind will lernen! Jeder Mensch, ob jung oder alt, möchte gesehen werden.

Ich sehe auch heute bei 38 Kindern vieles. Sicher nicht alles, das muss man auch nicht. Aber ich sehe jedes einzelne Wesen. Alle. Irgendwie. Über die vielen Jahre sowieso. Aber ... das Sehen genügt nicht mehr! Ich möchte handeln, helfen, stützen, fordern, fördern, begleiten, anregen …, das schaffe ich aber nicht (mehr!).

Inzwischen arbeitet die gesamte Unterstufe (1–6) im Team. Teilweise kommen dann noch FörderlehrerInnen oder Persönliche Assistenzen für einzelne Kinder dazu. Das heißt, zu den 38 Kindern kommen weitere 4 Erwachsene (+ Bufdi/FSJler). Das Team arbeitet sicherlich hervorragend! Es sind unheimlich viele Aufgaben – neben der Vermittlung des Lesens, Schreibens und Rechnens – dazugekommen. Förderpläne müssen geschrieben werden, die Elternarbeit hat sich intensiviert, die Ansprüche sind insgesamt deutlich gestiegen: »mein Kind soll bitte bestmöglich begleitet werden«, »es soll in seiner Persönlichkeit erkannt und gefördert werden«…

Erwartungen

Wer sein Kind an eine (Waldorf-)Schule gibt, hat Erwartungen. Die Erwartungen an die Schulbildung der Kinder, einmal unabhängig vom Abschluss gedacht, haben sich ebenfalls geändert. Zunächst einmal sind sie überhaupt da. Und zwar oft schon nach der Geburt mit der Frühkindlichen Förderung, die ja bereits während der Schwangerschaft angeboten und diskutiert wird.

Die Wahl des Kindergartens steht bevor und die Aufmerksamkeit richtet sich auf die Qualität der Betreuungseinrichtung. Was ist gut für mein Kind? Was ist gut für mich? Was ist gut für die Familie?

Dann folgt der Übergang in die Schule, und die Fragen wiederholen sich.

Meine Fragen haben sich in den letzten 30 Jahren nicht verändert. Sie sind nun ganz konkret. Ich arbeite mittendrin. Für mich war Schule immer ein Ort des Lebens. Oder sollte es sein! Hier sollten Kinder Anregungen bekommen auf sämtlichen Gebieten des Lebens. Das Leben ist so fantastisch! Es gibt so viel zu entdecken! Jedes Kind ein Könner, schrieb Henning Köhler! Ja, seht die Kinder an! Es sind tägliche Begegnungen mit individuellen Persönlichkeiten, die ihre Aufgabe auf dieser Erde suchen. Und wir dürfen sie begleiten und teilhaben. Dafür muss sich die Schullandschaft verändern.

Für die meisten Kinder ist die Schule der einzige Ort, an dem sie sich sicher und geborgen fühlen. Der »Ort Schule« hat immer noch eine große Bedeutung. Das ist doch wundervoll! Wir können die Kinder gemeinsam mit den Kindergärten und Kitas bis zum Abschluss quasi von 0–21 Jahren begleiten und ihnen wichtige Impulse für ihr späteres Leben geben. Drei Jahrsiebte!

Jede Mutter, jeder Vater ist mit Sicherheit immer versucht, das jeweils bestmögliche in der jeweiligen Phase zu tun. Wir sind alle Lernende! Und sollten uns gegenseitig helfen und unterstützen. Miteinander nach Lösungen suchen, anstatt auf den anderen und dessen Wege herabzusehen.

Lösungen

Der erste Schritt muss doch sein, zu überlegen, wie eine gute Lernatmosphäre geschaffen werden kann. Was ist eine gute Lernatmosphäre?

Viele Kinder klagen schon im Kindergarten über die Lautstärke. Die Beschwerde höre ich auch oft aus der Unterstufe. Aber auch von SchülerInnen, die zum Lernen mehr Ruhe benötigen und sie nicht bekommen, wenn 35 weitere MitschülerInnen laut murmeln oder sich anderen (privaten) Themen widmen.

Um gut lernen, arbeiten und forschen zu können, braucht man Ruhe. Oder zumindest eine angenehme Atmosphäre, in der zielstrebig gearbeitet werden kann.

Wir wissen auch, wann Kinder zufrieden sind. Es ist wie bei uns Großen. Wenn uns etwas oder jemand berührt. Wenn wir in Resonanz treten mit einem Thema oder einer Person. Schule muss also den Kindern Angebote machen, die sie ergreifen können. Ich kann das Angebot groß halten, ein Überthema geben, sodass alle etwas finden können. Je nach Begabung, Kraft und Können. So arbeiten wir sicherlich auch schon lange. Nicht nur im inklusiven Unterricht. Das Thema Differenzierung ist ja nicht neu. Die eigenen Kinder sind auch verschieden und konnten und können nicht gleich behandelt werden.

Um aber differenzieren zu können, muss ich zusätzlich zum Material auch Räume haben. Ich muss flexibel auf plötzliche oder unerwartet neu entstehende Arbeitsprozesse reagieren können. SchülerInnen sollten sich zurückziehen können. Sie sollten auch einen Ort aufsuchen können, an dem sie Hausaufgaben machen oder eine Tasse warmen Kakao bekommen können. Ja, Schule als Ort des Lebens. Wir alle, auch die Pädagogen, verbringen einen Großteil der Woche in dieser Einrichtung. Sie sollte schön sein und funktional. Waldorfschulen sind in der Regel schön. Man fühlt sich wohl und geborgen. Keine Frage. Das Außengelände, der Garten usw. spielen auch eine zentrale Rolle.

Sie merken, das Thema Kleinklassen ist sehr komplex. Ich habe eine riesigen Bogen gemacht und könnte noch lange weiterschreiben.

Fazit

Wenn ich auf die Gesellschaft schaue, und darum geht es ja, dann muss ich eine andere Schulwirklichkeit haben wollen. Wie können wir auf die Individualisierung eingehen? Sie ist da und es hat keinen Zweck, sie dauernd schlecht zu reden. Wir erwarten ja von den Kindern, dass sie allein vor der Gruppe sprechen, sich zeigen, ihre Persönlichkeit ergreifen und sich an ihr freuen. Dass sie nach 12 Jahren in die Welt hinaus wollen, um sie mit ihren Ideen und Kräften zu bereichern und zu gestalten. Jedenfalls sind das meine Ziele, wenn ich mit den Jugendlichen arbeite und Zeit verbringe. Das Individuum in der Gemeinschaft. Das ist die hohe Erziehungskunst.

Die Definition von Gemeinschaft ist nun spannend. Auch in Kleingruppen und beim Lernen allein wird man zu einem sozialen Wesen. Die Großraumbüros haben ausgedient. Lern- und Arbeitswelten sollten neu gestaltet werden. Es ist eine große Chance! Es macht viel Freude, den Ort Schule neu zu denken. »Schule neu denken«, das sagte Hartmut von Hentig. Viele pilgerten damals nach Bielefeld in seine Laborschule. Viele waren begeistert. Aber wenige fanden den Mut, neue Wege zu gehen. Es ist schwer, alte Strukturen zu verlassen. Denn sie gaben und geben ja einen Rahmen und Halt. Doch die Wände wackeln und den Halt muss zukünftig immer mehr jeder in sich selbst finden.

Unsere Aufgabe als Eltern und Pädagogen ist es doch, den Kindern Vertrauen in ihre eigene Kraft zu schenken!  Dafür braucht man Zeit, Kraft, Aufmerksamkeit, Geduld, Neugier und Mut. Und: Lust und Freude am Leben! Schule kann und sollte ein Ort der Kraft sein. Eine Kraftquelle. Dafür muss die Atmosphäre stimmen. Ein Café als Ort der Begegnung, des Austausches, eine Bibliothek, um sich eigenständig fortzubilden, ein Ruheraum, ein Bewegungsraum, ein Garten mit Bänken … eine Werkstatt, ein Feuerplatz, ach, es ist herrlich, sich diese Schule zu erträumen. Vieles ist vorhanden, vieles darf wachsen und neu ergriffen werden. Es muss auch nicht stets mehr getan und gewollt werden. Aber anders …

Aus der Ruhe heraus. Wir rasen durch die Zeit. Wir nehmen die Kinder wahr. Aber ich bezweifle, dass wir unserem hohen Anspruch gerecht werden können, wenn die Klassenstärke zu groß ist.

Vielleicht hilft die Frage an uns selbst: Was brauche ich, um gut lernen und arbeiten zu können? Gibt es bei 38 Kindern 38 Antworten? Vielleicht. Und dann? Es bleibt spannend. Ich wünsche uns allen den Mut, im Kleinen Schritte zu wagen, die Schule neu zu gestalten. Alles auf Null. So wie in Stuttgart 1919. Just do it.

Autorin: Christine Holle

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