Was heißt hier Wille?

Wolfgang-M. Auer

Um den Willen konkret zu verstehen und für die Erziehung zu erschließen, muss er – so Steiner in diesem Vortrag – mit den Wesensgliedern des Menschen in Beziehung gebracht werden. In jedem dieser insgesamt sieben Wesensglieder manifestiert er sich in einer anderen Erscheinungsform. Auf der Stufe des physischen Leibes ist der Wille Instinkt, auf der des Lebensleibes Trieb, auf der Ebene des Empfindungsleibes Begierde. Erst mal so viel, denn hier beginnt schon das Problem. Im Vergleich zu den Tieren hat der Mensch kaum mehr Instinkte; Triebe und Begierden dagegen schon; aber kann es eine pädagogische Aufgabe sein, diese zu bilden oder gar zu vermehren? Die damaligen Zuhörer mögen verstanden haben, worauf Steiner hinaus wollte, die nachfolgenden Leser hatten es nicht so leicht damit, weil sie Steiners Ausführungen dazu, was Tier und Mensch gemeinsam haben, für das Wesentliche hielten, statt nach dem zu suchen, was beim Menschen an die Stelle tritt. Und so kam es, dass dieser Vortrag seit Jahrzehnten schlicht als unverständlich gilt. Das zeigte sich auch in den verschiedenen Publikationen über die Allgemeine Menschenkunde im Jubiläumsjahr 2019, wo die Erläuterungen zum 4. Vortrag kaum mehr zu sagen hatten, als dass dem Menschen eben auch eine animalische Natur mit Instinkten, Trieben und Begierden eigen ist, in denen der Wille wirkt, was jedoch dem Vortrag nicht gerecht wird. Hier soll nun ein anderer Verständniszugang zu Rudolf Steiners Ausführungen aufgezeigt werden.

Wenn es um den physischen Leib geht, ist der Wille Instinkt. Beim Tier heißt das, es hat für alle typischen Verhaltensweisen und Verrichtungen ein »Programm«, das durch ihn bestimmt wird. Daher muss es fast nichts lernen, sondern kann alles, was es für sein spezielles Dasein braucht. Das gerade geborene Fohlen kann sofort auf seinen Beinen stehen, gehen, springen und nach kurzer Zeit der Herde folgen. Die Vögel können nach Maßgabe ihres Instinkts ihr Nest bauen, der Biber seine Burg, aber sie können nichts anderes, weil auch ihr Körperbau, vom Instinkt geprägt, hochspezialisiert ist. Das Tier ist dadurch festgelegt und kann sein Verhalten nicht ändern. Beim Menschen ist es genau umgekehrt, er bringt außer einigen Reflexen wie Saugreflex und Greifreflex, die nur kurze Zeit wirksam sind, kaum etwas mit, was sein Verhalten bestimmt und ausrichtet. Er muss alles lernen, selbst die gattungsmäßigen Eigenschaften wie den aufrechten Gang und die Sprache.

Wenn das Kind mit einem Jahr aufrecht gehen lernt und nach einigen Jahren das Gehen wirklich beherrscht, kann es in jeder Situation, d.h. auf weichem oder hartem, ebenem oder unebenem Boden, bergauf oder bergab gehen, laufen und springen. Es hat dem eigenen Körper durch das eigene Tun ein »Programm« eingeprägt, das dafür sorgt, dass diese Tätigkeit, das Gehen, in jeder Situation richtig und automatisch abläuft, wie es beim Tier von Anfang an durch den Instinkt gewährleistet ist. Genauso ist es beim Sprechen, Schreiben, Rechnen, Stricken, Sägen, Schwimmen, Fahrradfahren, Klavier- oder Fußballspielen. Haben wir eine Tätigkeit wirklich gelernt, so steht sie uns – analog zu den Instinkthandlungen bei den Tieren – lebenslang zur Verfügung und wir können auch nach langer Pause noch schwimmen, Fahrrad fahren oder Klavier spielen.

Wie aber bildet sich der individuelle menschliche Wille aus? Der menschliche Wille ist bildlich gesprochen wie ein Wasserlauf, der von der Quelle zum Meer fließt. Ob der Wille im Tal, d.h. in der Welt ankommt oder nahe der Quelle versickert, liegt nicht an der Quelle und ihrer Stärke, sondern daran, ob es Gräben oder Kanäle gibt, durch die das Wasser in die Welt fließen kann. Wenn der Mensch eine Bewegung, Tätigkeit, Technik oder eine neue Sprache erlernt, wird ein neuer Kanal gegraben oder ein vorhandener breiter oder tiefer gemacht, und dann können die Intentionen und Impulse des Willens durch den Körper und seine erlernten Fähigkeiten hinaus in die Welt und dort etwas bewirken.

Willenserziehung heißt also Kanäle ziehen, damit der Wille durch den physischen Leib in die Welt gelangen und dort etwas schaffen kann. Der Wille selbst (Quelle), der individuellste und intimste Teil unseres Wesens, sollte in der Waldorfpädagogik nicht angetastet werden, er ist tabu. Die Erziehung richtet sich nur auf die Bildung der Wesensglieder (Kanäle), das bedeutet auf der Stufe des physischen Leibes, auf alles, was wir mit dem Körper an Bewegungen, Tätigkeiten und Geschick erlernen. Dies den Kindern und Jugendlichen durch Bewegen, Handarbeit, Werken, Spielen und vieles andere zu ermöglichen, heißt, dem Willen den Weg in die Welt zu ebnen.

Im Lebensleib manifestiert sich der Wille als Trieb. In der Schule geht es nicht darum, kreatürliche Triebe wie den Nahrungstrieb, Fortpflanzungstrieb oder Fluchttrieb zu üben, sondern darum, neue, kulturelle Antriebe zum Handeln zu entwickeln. Solche kultivierte Antriebe sind beispielsweise unsere Gewohnheiten. Sie sind kurze oder längere Handlungen, Verhaltensweisen oder Methoden, die durch langes Wiederholen angeeignet werden und an bestimmte Situationen gebunden sind. Tritt eine solche Situation ein, läuft die entsprechende Gewohnheit automatisch ab und sorgt dafür, dass wir, ohne uns extra dazu entschließen zu müssen, z.B. abends immer die Zähne putzen, nachmittags am Musikinstrument üben, unsere Aufgaben immer zu Ende führen, nach Benutzung die Werkzeuge aufräumen, dem Nachfolgenden die Türe aufhalten, aber auch beim Rechnen oder bei anderen Verrichtungen die richtigen Methoden verwenden usw. Ist etwas Gewohnheit geworden, dann fällt es leichter, dies auch zu tun. Auch durch die Gewohnheiten werden Kanäle für den Willen angelegt, und zwar solche, die ihn zu wiederholten Tätigkeiten und bleibenden Verhaltensweisen antreiben und die oft Platz schaffen für bedeutsameres Tun. In Kindergarten und Schule sind die Gewohnheiten ein wichtiges pädagogisches Element, um in Verbindung mit Ritualen gewaltfrei Disziplin herzustellen und Methoden und Verhaltensweisen selbstverständlich werden zu lassen.

Im Empfindungsleib wird der Wille als Begierde fassbar. Oft abgewertet, ist diese Willensart hier wertfrei als Begehren zu verstehen und in abgeschwächter Form als Bedürfnis. Die Begierde richtet sich immer auf einen wahrgenommenen oder vorgestellten Gegenstand oder ein Gegenüber, z.B. den Liebespartner, die Schokolade auf dem Tisch, die Sommerreise nach Griechenland oder ein gutes Zeugnis. Um das Begehrte zu erreichen, wird u.U. viel Willenskraft investiert, die durch Begierde geweckt wurde. Nimmt man den Alltag genauer in den Blick, werden wir feststellen, dass wir – außer durch Gewohnheiten – auch von Begierden zu vielen Handlungen veranlasst werden. Ohne Begierden würde wohl niemand morgens aus dem Bett kommen und auch vieles andere würde nicht geschehen. Pädagogische Aufgabe ist es, den Horizont der vorhandenen Begierden zu erweitern. Kinder wollen gerne den Klassenraum fegen, weil die Lehrerin oder der Lehrer es ihnen so lange vorgemacht haben, bis die Begierde danach stark genug ist; sie kommen gerne in die Schule, weil sie neugierig sind, wie die erzählte Geschichte oder das schriftliche Rechnen weitergehen. Damit die Begierde, Cello spielen zu können, dauerhaft wird, braucht es mehr: guten Unterricht, regelmäßiges Üben und immer wieder das Erlebnis, was ältere Schüler und Musiker auf dem Instrument können. Dann wird aus der Begierde ein Interesse an der Musik und am Musizieren, das zwar immer wieder angefacht werden muss, aber über Jahre hinweg tragen kann.

Wenn in der Pädagogik diese drei Bereiche, körperliches Geschick, Gewohnheiten sowie Begierden und Interessen gepflegt und weiterentwickelt werden, führt das zu einem starken Willen und effektivem Handeln, weil auf allen drei Ebenen für den Willen genügend Kanäle in die Welt vorhanden sind.

Zu diesen drei Wegbereitern des Willens gehört, was dem Ich zugeordnet ist, das Motiv. Das Begehren hält nicht lange, es erlischt, wenn es das Objekt seiner Begierde erreicht oder vergisst. Motive sind nicht von einzelnen Situationen oder von Objekten abhängig. Der Mensch wählt und gestaltet sie selbst. Sie beziehen sich auf ein langfristiges Ziel, oft sogar auf ein Lebensziel, das gar nicht auf direktem Wege zu erreichen ist. Sie geben dem Willen die Kraft und Ausdauer, trotz Widerständen, Rückschlägen und Umwegen an einer Sache dran zu bleiben. Motive werden schon beim kleinen Kind, besonders aber in der Jugend, angeregt durch Märchen, Vorbilder, Beispiele, Biografien, philosophische Gespräche und Rückblicke ins eigene Leben.

Durch Motiv, Begierde, Trieb und Instinkt bahnt sich der Wille den Weg aus dem menschlichen Innern hinaus in die Welt. Von diesem Weg hängt ab, wie stark der Wille sich mit der Welt zu verbinden und in ihr zu wirken vermag. Stärke und Schwäche des Willens sind also keine festen Eigenschaften des individuellen Willens, sie können sich schnell wandeln und hängen von der jeweiligen Aufgabe und vor allem den vorhandenen Kanälen ab.

Ein Beispiel aus dem pädagogischen Alltag soll das verdeutlichen. Ein Jugendlicher kommt immer lustlos zur Schule, hat für nichts Interesse, engagiert sich für nichts, bringt nichts auf die Reihe; kein Heft wird fertig, keines rechtzeitig abgegeben. Alle halten ihn für einen Menschen mit schwachem Willen, aber dieses Urteil ist falsch. Als ihm erlaubt wird, unter bestimmten Auflagen seinen 17. Geburtstag mit einer Party zu feiern, ergibt sich ein ganz anderes Bild. Mit Energie begibt er sich an die Planung und die praktische Vorbereitung, holt sich die richtige Hilfe für die Musik und sorgt auf der Party dafür, dass die Gäste Spaß haben und sich an die Regeln halten. Durch diesen Erfolg wachsen sein Interesse am Unterricht und seine Zuverlässigkeit. Vor der Party war sein Wille nicht schwach, aber es fehlten ihm die richtigen Kanäle im Bereich von Begierde und Interesse sowie bei den Gewohnheiten, die er danach auch für die Schule ausbauen konnte. Ähnlich kann in der achten Klasse die Rolle im Theaterstück oder im Kunstbetrachtungsunterricht der elften Klasse die Aufgabe, sich mit einem Maler zu befassen und eines seiner Bilder zu kopieren, einen Durchbruch für den individuellen Willen bedeuten. Disziplin veranlagt man, indem man die Formen und Verabredungen des Zusammenlebens, im Bewegten Klassenzimmer z.B. das Umräumen von Bänken und Kissen, einführt und übt, bis es Gewohnheit und Geschicklichkeit geworden ist. Und wenn man mit einer siebten Klasse erarbeitet und übt, wie man einen Text studiert und selbst Texte schreibt, hört man von den Eltern, dass zu Hause seitdem die Schreibtische aufgeräumt sind.

Geht es um die Erziehung und Bildung des Willens, blicken wir also nicht auf den Willen, der anders werden soll, sondern auf konkrete Eigenschaften der Wesensglieder, die gestärkt oder überhaupt erst entwickelt werden müssen, damit der Wille durch sie in der Welt wirken kann.

Zum Autor: Dr. Wolfgang-M. Auer war 30 Jahre Lehrer an der Rudolf-Steiner-Schule Bochum und federführend bei der Entwicklung des Bewegten Klassenzimmers. Er ist Autor und Herausgeber verschiedener Bücher zur Waldorfpädagogik und heute als Dozent an verschiedenen Orten im In- und Ausland tätig.

Literatur: Rudolf Steiner: Allgemeine Menschenkunde als Grundlage der Pädagogik. GA 293, Dornach 1992 | W.-M. Auer: Sinnes-Welten, München 2007 | Ders.: Praxisbuch Sinne wecken, Schaffhausen 2008 | Ders. (Hrsg.): Trau Deinen Augen. Kunstbetrachtung an Waldorfschulen, Stuttgart 2012 | W.-M. Auer, A. Wiehl: Das Bochumer Modell des bewegten Klassenzimmers, Stuttgart 2017 | Dies.: Kindheit in der Waldorfpädagogik, Weinheim 2019 | Dies.: Bewegtes Klassenzimmer. Innovative Pädagogik an Waldorfschulen, Weinheim 2021