Wer betreut mein Kind?

Katja Lehwalder

Leider lassen die Debatten darüber oftmals keinen Blick auf die dahinter liegenden strukturellen Bedingungen zu. Es geht nicht nur um Toleranz unterschiedlicher Lebensentwürfe, sondern um strukturelle Richtungsentscheidungen, die pädagogische Institutionen und die gesellschaftliche Entwicklung im Allgemeinen betrifft. Das staat­liche Bildungssystem repräsentiert die Ziele, die politisch für die gesellschaftliche Entwicklung als Ganzes betreffen. Mehr noch: Es ist ein Instrument, um die gesellschaftlichen Strukturen zu erhalten. Dass der Diskussionsbedarf zur Betreuung von Kleinkindern gerade auch im Umfeld anthroposophischer Einrichtungen groß ist, liegt auf der Hand. Waldorfeinrichtungen gelten von jeher als »Inseln«. Weil es in ihnen darum geht, jedem Kind seine Zeit für seine individuelle Entwicklung zu lassen, ihm die Möglichkeiten zur freien Entfaltung einzuräumen. Und weil der Anspruch auch der ist, es »anders« zu machen, sich gegen bestehende Institutionen und deren Strukturen zu behaupten. Als pädagogische Einrichtungen in privater Trägerschaft sind sie also besonders mit der Frage konfrontiert, welche gesellschaftlichen Entwicklungen ihren Ausdruck finden sollen und an welcher Stelle man nicht dazu bereit ist, sich dem Wandel der Zeit anzupassen. Umso mehr, da sie allein schon durch ihr Bestehen in einer Position sind, interessierte Eltern zu ermutigen, einen anderen Weg einzuschlagen, als den allgemein gängigen.

In welchen Strukturen leben wir?

Um in dieser Debatte voranzukommen, ist es deshalb dringend erforderlich, einen Blick auf die strukturelle Ebene zu werfen und die persönliche Ebene zu verlassen.

Der gesellschaftliche Wandel, auf den der Ausbau der Ganztagsbetreuung ebenso zurückzuführen ist wie der der U3-Einrichtungen, ist ein politisch gewollter Wandel. Die Frage, die sich aufdrängt, ist: Wem nützt dieser Wandel, was ist das Ziel, das damit verfolgt wird? Geht es tatsächlich darum, vor allem Müttern nach der Elternzeit einen leichteren Wiedereinstieg ins Berufsleben zu ermöglichen und wenn ja: Geht es um die Frauen und darum, sie in ihrer persönlichen Entscheidung zu unterstützen, oder vielmehr darum, dass sie schnellstmöglich wieder als Arbeitskräfte zur Verfügung stehen? Oder ist es denkbar, dass diese Maßnahmen darauf abzielen, die nächste Generation so früh als möglich unter den Einfluss von Betreuungseinrichtungen zu bringen? Wieso wird es Familien so schwer gemacht, ihr Kind zur Mittagszeit abzuholen, um noch ein paar gemeinsame Stunden mit ihm zu verbringen, damit die Erlebnisse im Kindergarten im geschützten familiären Umfeld verarbeitet werden können?

Welche Gesellschaft möchte ich meinen Kindern hinterlassen?

Eine andere grundsätzliche Frage lautet: Bin ich als Elternteil dazu bereit, den politisch erzeugten Wandel mitzutragen und die Richtung, die die Gesellschaft einschlagen soll, ebenfalls zu wählen? Und wenn ich dazu bereit bin, diese Entwicklung mitzutragen, wohin führt der Weg? Welche Gesellschaft werde ich auf diese Weise meinen Kindern hinterlassen?

Wer weiß, welche monatlichen Kosten ein Krippenplatz verursacht, muss auch auf die Frage stoßen, wo die entsprechende Finanzspritze für die Eltern bleibt, die auf einen solchen Platz verzichten. Das Elterngeld war ein guter Anfang. Es reicht aber in seiner jetzigen Form nicht aus und wird nicht lange genug bezahlt. Was, wenn diese Zeit vorbei ist und man sein Kind bis zum Eintritt in den Kindergarten weiterhin zu Hause betreuen möchte? Das Betreuungsgeld erschien auf der Bildfläche; allerdings in einem so minimalen Umfang, dass es kaum der Erwähnung lohnt. Zügig wieder abgeschafft, weil es in der beschlossenen Form als verfassungswidrig bewertet wurde, gab es zwar auf der politischen Bühne ein paar verdrießliche Gesichter, darüber hinaus aber nur eine große Leere. Auch die fehlende Unterstützung von Alleinerziehenden, die sich eine Alternative für die außerfamiliäre Betreuung ihrer Kinder beziehungsweise die Ganztagesbetreuung wünschen würden, gilt es an dieser Stelle zu erwähnen. So, wie dieser familienpolitische Prozess sich bisher entwickelt hat und sich innerhalb der Betreuungseinrichtungen niederschlägt, scheint es nur eine Frage der Zeit, bis die Wahlmöglichkeiten für Familien weiter eingeschränkt, wenn nicht sogar abgeschafft werden. Und das ist ein weiterer Kern der Debatte. Es sollte nicht darum gehen, die Lebensentwürfe anderer schlecht zu machen; Familiensituationen sind verschieden und können sich auch durch äußere Umstände ändern. Vielmehr sollte der Fokus darauf liegen, Bestehendes zu schützen und Eltern die Möglichkeit zu geben, ihre Kinder bis zum Eintritt in den Kindergarten und während der Kindergartenzeit nachmittags in der Familie zu betreuen. Die Erziehung von Kindern ist die wohl wichtigste Aufgabe, die es gibt. Es ist dringend erforderlich, die strukturellen Rahmenbedingungen dafür zu stärken und die Möglichkeit, diese Aufgabe intensiv wahrnehmen zu können, zu erhalten.

Nicht die Eltern, die sich für die Ganztagsbetreuung oder die Annahme eines Krippenplatzes entschieden haben, sind auf struktureller Ebene davon bedroht, ihren Lebensentwurf nicht umsetzen zu können. Sondern diejenigen, die das nicht möchten, diejenigen, die sich dafür entschieden haben und, nicht zuletzt, dafür entscheiden konnten, ihre kleinen Kinder auf ihrer einzigartigen Reise im Alltag zeitintensiver zu begleiten.

Zur Autorin: Dr. Katja Lehwalder ist Soziologin und Mutter zweier Kinder.