Wind unter den Flügeln (S. Saar)

Sven Saar

Warum heißt es dann, ihre Grundlage sei die Anthroposophie? Ist das nicht ein Widerspruch?

Für Rudolf Steiner gar keine Frage: Alle Menschen, die er für das Kollegium der ersten Waldorfschule in Stuttgart aussuchte, waren Anthroposophen, die ihm teils schon seit Jahren bekannt und vertraut waren. Sie betätigten sich in der Forschung und hielten öffentliche Vorträge über spirituelle Naturwissenschaft, Medizin und Sozialstruktur. Mit dem Ideal, Kindern eine Erziehung zur inneren Freiheit zu ermöglichen, konnten sich diese Pioniere sofort verbinden. Einige blieben ihrer neuen Berufung ein Leben lang treu, motiviert durch anhaltende, tiefe Liebe zu den ihnen anvertrauten Schülern. Auch wenn sie nicht »geborene« Pädagogen waren und beispielsweise mit der Disziplin so ihre Mühe hatten, wollten sie sich der von ihnen entdeckten Aufgabe nie wieder entziehen. Andere waren Naturtalente, die im gemeinsamen Entwickeln des von Steiner bewusst nur skizzenhaft umrissenen Lehrplans anhaltende wissenschaftliche Begeisterung empfanden. Es lohnt sich, die Biografien von Walter Johannes Stein, Herbert Hahn, Eugen Kolisko oder Caroline von Heydebrandt zu studieren, denn hier begegnet man Menschen, die sich der befreienden Kraft der Waldorfpädagogik deutlich bewusst waren.

»Wie hältst du’s mit der Anthroposophie?«

Wie sieht das heute aus? Sind Waldorflehrer Anthroposophen? Sollten sie es sein? Und was für einen Unterschied macht es? Wahrscheinlich gibt es darüber keine statistischen Erhebungen, denn die Frage »Wie hältst du’s mit der Anthroposophie?« wird von vielen Menschen als sehr persönlich empfunden und kann auch oft nicht so ohne Weiteres beantwortet werden. Steckt man sich nicht in eine Schublade, wenn man von sich sagt: »Ich bin Anthroposoph«? Muss man Angst davor haben, dann als unflexibel oder gar dogmatisch zu gelten? Wenn jemand zum Beispiel sagt: »Ich als Katholik bin gegen die Sonntagsöffnung von Geschäften«, so beruft er sich auf einen komplexen, über viele Jahre entwickelten Kodex von Überzeugungen, an deren Entstehen er nicht viel Anteil hatte, deren Sinn er jedoch nachvollziehen kann. Er sieht sich Schulter an Schulter mit Gleichgesinnten und erhält dadurch innere Sicherheit. Ähnliches gilt, wenn jemand aus seinem Selbstverständnis als Sozialist argumentiert. Glaube und Ideologie sind als Motivationsstützen und Argumentationshilfen durchaus verwandt. Auch im Umfeld von Waldorf-Einrichtungen begegnet man diesem Phänomen. Aber eigentlich lässt sich die Anthroposophie so nicht verantwortlich gebrauchen. Sie ist eben kein Glaubensinhalt, keine Weltanschauung, sondern ein innerer Weg, der für jeden Menschen anders aussieht und aussehen muss. In ihr geht es gar nicht um Inhalte, sondern um Prozesse, und jeder, der die Sinnhaftigkeit dieser Prozesse anerkennt, ist eigentlich ein Anthroposoph. Damit ist auch kein Status verbunden, keine äußerlichen Merkmale, und schon gar nicht die Erlaubnis, sich auf Steiners Vorträge zu berufen, um eigenes Denken zu ersetzen.

Die innere Freiheit ist das höchste Ideal

Einem Waldorflehrer, der sich als Anthroposophen sieht und bezeichnet, müssen Eltern also nicht mit Misstrauen gegenübertreten, im Gegenteil: Hier begegnen sie jemandem, für den die innere Freiheit des Menschen das höchste Ideal ist, und der den individuellen Weg jedes anderen Menschen anerkennt und wertschätzt. Rudolf Steiner betonte oft die Tatsache, dass eigentlich jeder Mensch, völlig unabhängig von seiner Herkunft, Religion oder politischen Überzeugung, etwas für ihn Einleuchtendes in der Anthroposophie entdecken könne. Wenn kontroverse Gespräche in Waldorfschulen mit Aussagen Steiners glattgebügelt werden, oder verborgene Machtstrukturen unter Verweis auf Vertrautheit mit seinem Vortragswerk gerechtfertigt werden, so handelt man sicher nicht im Geiste dessen, was die Waldorfpädagogik ermöglicht hat und sie bis heute beflügeln könnte. Denn das ist die Anthroposophie in der Waldorfschule: der Wind unter den Flügeln ihrer Lehrer und Lehrerinnen. Sie bestimmt – entgegen weitläufiger Überzeugung – keine Inhalte und zwingt keine Methodik auf. Vertraut man als Pädagoge aber auf das, was in der geistigen Auseinandersetzung mit den Schülern und dem Lehrplan entstehen kann, so fühlt man sich erfrischt und inspiriert. Man behandelt in der dritten Klasse nicht den Auszug aus Ägypten unter Moses, um Kinder zum Gehorsam gegenüber den zehn Geboten zu erziehen, sondern weil es für die Zehnjährigen zutiefst be­friedigend ist, dass es zu Anfang unserer Kultur solch verlässliche Regeln gegeben hat.

Achtklässler werden nicht zu Sozialisten, wenn man ihnen von den verschiedenen europäischen Revolutionen des 19. und 20. Jahrhunderts erzählt – sie sind es schon, entwicklungsbedingt, für kurze Zeit zumindest. Bei jedem Schritt, in jedem Fach begegnen Waldorfschüler auf diese Weise Themen, die auf ihre altersspezifischen Bedürfnisse zugeschnitten sind. Das liegt daran, dass die Lehrpläne von Menschen entwickelt wurden, die Bedingungen schaffen wollten, unter denen der sich entwickelnde Mensch die größtmögliche Freiheit erringen kann: Er soll sein inneres Potenzial entfalten und im erwachsenen Leben seine Ideale verwirklichen können. Diesen Auftrag empfanden sie und empfinden Waldorflehrer noch heute als Ergebnis ihrer Beschäftigung mit der Anthroposophie.

Schaut man einmal auf das, was heute als »Lebensfelder« bezeichnet wird – Waldorfpädagogik, biodynamische Landwirtschaft, anthroposophische Medizin, Heilpädagogik, Wirtschaftsunternehmen wie Weleda, Demeter, Sonett oder die GLS Bank – so haben sie alle gemeinsam, dass sie die Welt ganz konkret verbessern. Sie predigen nicht, fordern nicht, schränken nicht ein, sondern erweitern das tägliche Leben um eine entscheidende Perspektive.

Anthroposophie ist eben nicht nur ein im stillen Kämmerchen praktizierter Weg, sondern hinterlässt auch konkrete, erlebbare Spuren. Ohne sie gäbe es alle oben genannten Bereicherungen unseres Lebens nicht. Waldorflehrer und -eltern können dankbar sein, dass in unseren Schulen der Geist weht – er ist es, der uns befähigt, in der Welt Akzente zu setzen und sie zu verändern, ohne sie zu beherrschen.

Zum Autor: Sven Saar ist Klassenlehrer an der Freien Waldorfschule Wahlwies in Stockach.