Wir brauchen keine Verschwörungstheorie(n)

Michael Benner

Laut Wikipedia kam der Begriff Verschwörung, abgesehen von einigen exemplarischen Vorläufern von tatsächlichen oder vermuteten Verschwörungen in der Antike, im Mittelalter und in der frühen Neuzeit, besonders während bzw. nach der Französischen Revolution auf. Es ist anzunehmen: Die Sache selbst ist sicher so alt wie die Kulturgeschichte.

»Das Was bedenke, mehr bedenke Wie« – dieser kleine, unscheinbare Satz von Goethe kann uns weiterhelfen; er sagt aus: Kümmere dich um den Inhalt, die Bedeutung einer Sache, beschäftige dich aber noch intensiver mit dem Wie, dem Umgang, der Entstehung, der Handhabung der Sache, der Methode der Entstehung.

»Als Verschwörungstheorie wird im weitesten Sinne der Versuch bezeichnet, einen Zustand, ein Ereignis oder eine Entwicklung durch eine Verschwörung zu erklären, also durch das zielgerichtete, konspirative Wirken einer meist kleinen Gruppe von Akteuren zu einem meist illegalen oder illegitimen Zweck« (Wikipedia).

Auch das hat es wohl immer gegeben. Beispiel aus den 1950erJahren: Der Sturz des rechtmäßig gewählten iranischen Präsidenten Mossadegh.

Es hat auch immer Fake-News, bewusste Falschmeldungen, schlecht oder unvollständig recherchierte Nachrichten, Diffamierungen, lancierte Falschmeldungen, dumme Aussagen und Ähnliches gegeben.

Wie soll man also mit Verschwörungen und Fake News umgehen?

Man muss sich bei allen Nachrichten, Meldungen und Erzählungen mit der Frage auseinandersetzen, wie man sich in die Lage bringt, den Wahrheitsgehalt, die Relevanz und die Bedeutung einer Nachricht möglichst gut einschätzen zu können.

Dazu sind gute Bildung, ein klarer Verstand, kritisches Reflektieren und die Möglichkeit, selbstständig weitere Quellen zur Recherche heranzuziehen, unabdingbar.

Das Ergebnis all dieser Tätigkeiten kann tatsächlich auch einmal sein, dass jemand einen Sachverhalt dadurch zu erklären versucht hat, dass eine Geheimgesellschaft oder eine verschworene Gemeinschaft im Hintergrund die Fäden gezogen und den behaupteten Sachverhalt hervorgerufen hat, obwohl dies nicht stimmt. Kann man diese Behauptung aufklären, wird die bisherige Falschbehauptung wirkungslos und der Fall kann als abgeschlossen gelten.

Es kann aber auch sein, dass es diese verschworene Gemeinschaft und ihre bisher verborgene und nur behauptete Wirksamkeit tatsächlich gab. Kann man diese Behauptung belegen, kann der Fall in puncto Erkenntnisarbeit auch als abgeschlossen gelten.

Bei komplexen Fragestellungen, schlechter Quellenlage oder begrenzter Zeit muss man außerdem die Fähigkeit besitzen, sich einzugestehen, dass man bei dem Versuch, sich ein eigenes, möglichst objektives Urteil zu bilden, stecken geblieben ist. All das sind methodische Fragen, Fragen des »Wie«. Was fehlt nun noch im Umgang mit möglicherweise problematischen Nachrichten?

Eigentlich nichts!

Wozu brauchen wir also den Begriff der Verschwörungstheorie heute? Wie wird er verwendet, wie wirkt er im öffentlichen Dialog?

Die Sätze »Dies ist eine Verschwörungstheorie!« oder »Das ist ein Verschwörungstheoretiker« wirken so – jeder kann das bei sich selbst beobachten –, dass die als »Verschwörungstheorie« gebrandmarkte Position oder Person augenblicklich als indiskutabel betrachtet wird. Sie werden zur persona non grata, oder zu einer gesellschaftlich geächteten Meinung.

Das Vorurteil tritt sofort in Kraft. Es transportiert die Nachricht: Sich mit dieser Person oder ihrer Theorie zu beschäftigen, ist nicht nötig, ja sogar gefährlich. Man sollte es in jedem Fall unterlassen, will man nicht selbst in Gefahr geraten, in den Dunstkreis von Verschwörungs­theoretikern gestellt zu werden oder von der Theorie »angesteckt« zu werden.

Da alle am öffentlichen Dialog Beteiligten um diese Gefahr wissen, findet augenblicklich ein meist unbewusster, kollektiver Schulterschluss statt, die kollektive Isolierung funktioniert.

Das »Was« des Satzes: »Hier liegt eine Verschwörungstheorie vor«, kann ja durchaus richtig sein. Wie ist er aber in mein Bewusstsein gelangt und was hat er bewirkt? Hat mir jemand, statt der vielleicht anstrengenden eigenen Recherche, sein Urteil übergestülpt und mich damit geistig vereinnahmt? Hat jemand anderes, ungefragt, die Deutungshoheit übernommen, und sich damit angemaßt, den fraglichen Sachverhalt für alle anderen beurteilen zu können? Und das in einer solchen abschließenden Weise, dass eine gemeinsame Urteils- und Begriffsbildung verhindert wird?

Möglicherweise ist sein Motiv die Wahrheitsfindung, möglicherweise aber auch die Diffamierung eines unbequemen Gegners und damit die Vertuschung einer tatsächlichen Verschwörung. Im letzteren Fall wäre der Sprecher des Satzes: »Dies ist eine Verschwörungstheorie« jemand, der selbst aus unlauteren Motiven heraus Falschnachrichten oder gar Verschwörungstheorien verbreitet. All dies zu entscheiden und zu beurteilen wäre wiederum Gegenstand einer weiteren, von mir zu leistenden geistigen Arbeit.

Diffamierung und Gegendiffamierung brauchen wir nicht. Denn sie stellen einen Störfaktor in der Erkenntnisarbeit dar.

Als Lehrer haben wir hier eine ganz besondere Verantwortung, denn wir sind verpflichtet, Schüler dazu zu befähigen, sich ein eigenes, gut begründetes Urteil zu bilden, nicht aber, sie zu lehren, wie sie die Meinungen anderer unreflektiert übernehmen, auch nicht unsere eigenen, und seien sie noch so gut begründet.

Die Verwendung von sozial diffamierenden Begriffen, wie es zum Beispiel der Begriff Verschwörungstheoriker darstellt, kann also nicht scharf genug gebrandmarkt werden. Den Anderen ein Urteil überzustülpen, das dazu führt, dass eine Theorie oder ihr Autor gesellschaftlich augenblicklich verbrannt sind, ist ein voraufklärerisches Verfahren, ein Verfahren, das die gewaltige Leistung dieser Epoche mit Füßen tritt. Deren bedeutendster Satz lautet: »Habe Mut, dich deines eigenen Verstandes zu bedienen« (Kant).

Brandgefährlich an diesem voraufklärerischen Verfahren ist, dass wir mit dessen Anwendung gewaltig an kultureller Höhe verlieren und in Zeiten zurückfallen, in denen wir uns von Autoritäten haben sagen lassen, was Wahrheit ist. In diesen Zeiten war die Anklage zugleich die Verurteilung, gab es keine Unschuldsvermutung, hatte die prüfende Vernunft, die im Zweifelsfall für den Angeklagten spricht, nichts zu melden. Die Autoritäten wussten, was gut und böse ist. Und das Böse musste vernichtet werden.

Vernünftig ist, von solchen begrifflichen und sozialpsychologischen Vereinnahmungs- und Entmündigungsstrategien Abstand zu nehmen, die derzeit die kuriosesten Blüten treiben. Vernünftig ist es, sich um eine eigenständige Erkenntnisarbeit und ein ausgereiftes Urteil zu bemühen. Vernünftig ist auch, sich mit den Argumenten jener auseinanderzusetzen, die die eigenen Auffassungen nicht teilen. Nur im Austausch, nicht in der Unterdrückung von Argumenten finden wir zur Wahrheit.

Was aber, wenn wir einer Anmaßung begegnen, die keine Argumente vorbringt, die dem Dialog durch die Beschuldigung ausweicht? Wenn uns jemand an den Kopf wirft, zu den Verschwörungstheoretikern zu gehören, um uns zum Verstummen zu bringen? Dann endet jede Möglichkeit des Dialogs. Und der Beschuldiger hat sein Ziel erreicht.

Zum Autor: Michael Benner unterrichtet Geschichte, Sozialkunde und Geographie an der Freien Waldorfschule Märkisches Viertel in Berlin und gründete die klassenübergreifende Mineralienhandelsgesellschaft Schülerfirma Steinbrücke GbR.