Wo, meinen wir, findet Begegnung statt?

Sarah Traupe

Klar war für mich jedoch von Beginn an, dass ich eher meinen Beruf an den Nagel gehängt hätte, als dass ich es hätte verantworten wollen, auf digitalem Wege meinen Fernunterricht zu bestreiten. Ich habe zwei Töchter, eine davon in der 3. Klasse (die Kleinere im Kindergarten). Ich kann mir überhaupt nicht vorstellen, dass ich meiner Tochter zumuten möchte, und sei es erst in der 6., 7. oder 8. Klasse, mit dieser Regelmäßigkeit jeden Tag vor dem Bildschirm zu sitzen.

Ich weiß auch, dass sich die Bildschirmzeit mancher Kinder aus meiner 5. Klasse deutlich in die Länge gezogen hätte. Ich bin mir sicher, dass es für die Eltern zumindest sehr schwer geworden wäre, ihre Kinder diesbezüglich zu beschränken und jeden Tag zu argumentieren: »Du hast ja heute morgen schon zwei Stunden Unterricht am Bildschrim gehabt, da fällt deine Medienzeit für heute natürlich aus.« So wäre diese also noch obendrauf gekommen.

Ich entschied mich also dafür, Epochenpakete (Brief, mit genauer Vorgabe für wie viele Tage eine Aufgabe gedacht und wie und mit welchem Material sie zu bearbeiten ist, Epochenheft, Buch, Bildmaterial ...) vorzubereiten, die auf dem Schulparkplatz in einem verabredeten Zeitraum von zwei Stunden per »Drive-In« abgeholt wurden – von Eltern und Schülern. Ab jetzt waren die Kinder erst einmal auf sich alleine gestellt. Klar war aber, dass sie mich jederzeit anrufen oder die Eltern mir E-Mails schreiben konnten. Mit diesem Feedback war es zudem schnell möglich, die Aufgabenstellungen und das Material so nachzujustieren, dass es den Schülern möglich wurde, sich selbstständig durch die Epochen zu arbeiten. War nach drei Wochen die Epoche um, so wurde wieder am »Drive-In-Schalter« das neue Material ausgeteilt und das bearbeitete abgegeben.

Ich habe immer schon gerne mit Rückmeldebögen gearbeitet, in denen die Schüler zunächst selber gefragt sind, ihr Epochenheft oder ihre Mitarbeit zu reflektieren und einzuschätzen, bevor ich meine Einschätzung dazuschreibe. In dieser Zeit war es mir noch wertvoller. So habe ich die Rückmeldebögen sehr dezidiert angelegt: Mich interessierte bei jeder Aufgabe, bei jeder neuen Methode, wie die Herangehensweise der Kinder war und wie sie mit der Arbeit zurechtgekommen sind. Im Lesen der Rückmeldungen empfand ich einen interessanten Dialog mit dem jeweiligen Kind und konnte nun seine Arbeit noch besser wertschätzen.

Im Resümee haben mehrere Kinder geschrieben, sie würden sich wünschen, dass wir auf diese Art noch einmal eine Epoche gestalteten. Sie beschrieben, dass sie die Arbeit als sehr frei empfunden hätten. Auch wenn die Aufgaben tatsächlich recht konkret von mir gestellt waren, mussten und konnten sie ja selber entscheiden, wie umfangreich oder tiefgründig sie die Aufgabe bearbeiten wollten und sahen nicht immer die Ergebnisse der anderen im direkten Vergleich. Das eigene Gestalten und die freie Zeiteinteilung, die sie zum Bearbeiten der Epoche hatten, empfanden sie ebenfalls als wertvoll.

Natürlich hatte oder habe auch ich Kinder in der Klasse, bei denen mir im Vorfeld klar war, dass die Zeit des Fernunterrichtes für sie eine besondere Herausforderung darstellen würde. So nutzte ich meine Zeit, um mich gezielt mit ihnen zu treffen und täglichen Unterricht in einer Kleinstgruppe zu organisieren. (Meine Tochter wiederum war froh, dass sie mit ihrem Material nicht alleine saß und arbeitete mit den »großen« Fünftklässlern umso emsiger an ihren Zweitklassunterlagen.) Ein anderes Kind konnte ich bei einer ehemaligen Kollegin, die bei ihm in der Nähe wohnte, unterbringen; auch dieses hatte somit täglichen »Unterricht«.

Als nun nach langem Warten endlich die einzelnen Präsenztage wieder einsetzten, waren meine Schüler und ich sehr froh, dass wir uns wieder sahen. Ich hatte nicht das Gefühl, Beziehung eingebüßt zu haben, weil ich die Kinder nicht am Bildschirm »begleitet« hatte. Und da, wo wirklich intensivere Begegnung nötig gewesen war, habe ich sie in die reale Tat umgesetzt.

Unter dem Strich habe ich mich wirklich gefragt, wer tatsächlich glaubt, Beziehung über den Bildschirm lebendig erhalten zu können. Wir kennen unsere Kinder doch. Viele sind durchaus selbstständig in der Lage, gewissenhaft zu arbeiten und brauchten mein Gesicht im Bildschrim dafür nicht. Das gelingt besonders dort, wo durch eine feste Familienstruktur reale Beziehungen zuhause existieren. Und für die Kinder, die genau das nicht haben, müssen wir uns etwas einfallen lassen, um ihnen Begegnung zu ermöglichen – und das muss mehr sein, als das Gesicht des Lehrers auf dem Bildschirm! Vielleicht sollten wir im Vorfeld viel mehr Zeit dafür verwenden, schon jetzt kleine Netzwerke in und um die Schulgemeinschaft zu gründen, um im Falle eines erneuten Distanzunterrichtes vorbereitet zu sein …

Zur Autorin: Sarah Traupe, Klassenlehrerin einer 6. Klasse an der Freien Waldorfschule Dinslaken