Zerrbild

Albrecht Hüttig

Unter dem Titel »Die sanfte Revolution« erschien von Lorenzo Ravagli ein Artikel in der letzten »Erziehungskunst«. Die Intention zu zeigen, was Anthroposophen in den gesellschaft­lichen Praxisfeldern leisten oder leisten möchten, ist legitim, das Wie des Artikels kann aber aus meiner Sicht nicht unerwidert stehen bleiben. Mit krassen Formulierungen wird generalisierend ein Schwarz-Weiß-Kontrast aufgebaut, der zeigen soll, welche Defizite die gesellschaftlichen Bereiche von Erziehung, Medizin, Ernährung und Ökonomie aufweisen, wohingegen das anthroposophische Engagement schon von seiner Intention her wesentlich höhere Qualitäten böte. Diese Position mag der persönlichen Überzeugung Ravaglis entsprechen, aber sie ist pauschal und unhaltbar. Wenn gesagt wird, Waldorfpädagogen würden im Gegensatz zu anderen Pädagogen ihre Schüler nicht als »intelligente Tiere« betrachten, legt das nahe, dass alle Lehrer, die nicht an Waldorfschulen arbeiten, so denken und ihre Schüler entsprechend behandeln. Ich kenne viele Lehrer an staatlichen Schulen und verwahre mich dagegen, ihnen solche Denkweisen zu unterstellen. In diesem Stil geht es bei der Medizin weiter. Mediziner, die nicht anthroposophisch therapieren, sähen ihren Patienten nicht als Individuum, sondern als »ein Exemplar seiner Gattung«, dessen Therapie automatisiert erfolge. Dem ganzen Berufsstand der Mediziner wird Unfähigkeit attestiert, da Patienten »durch medizinische Behandlung krank gemacht werden«. Ich kenne ganz andere Ärzte.

Damit wird ein Zerrbild kreiert, das den praktizierten gesellschaftlichen und akademischen Dialog zwischen anthroposophischen und nicht anthroposophischen Persönlichkeiten konterkariert. In allen Praxisfeldern der Anthroposophie gibt es Unvollkommenheiten, Problemstellungen, die der Lösung bedürfen, vieles steckt noch in den Anfängen (siehe R. Uhlenhoff [Hg.], Anthroposophie in Geschichte und Gegenwart). Wer als Anthroposoph meint, das Ideal sei erfüllt, täuscht sich, und wer meint, andere seien verglichen mit ihm unvollkommen, offenbart Unfähigkeit zur Selbstreflexion