Zeugnisse: Vom Wert der Handschrift

Walter Schafarschik

Vor vielen Jahren im Sommer – ich war gerade beim Zeugnisschreiben – kam Post. Wie jedes Jahr waren es Kopien der Waldorf-Zeugnisse meiner Enkel aus Nordrhein-Westfalen, wo das Schuljahr früher endet als in Baden-Württemberg. Als ich sie las, war ich betroffen. Nicht vom Inhalt, sondern: Die Zeugnisse waren Computerausdrucke – bis auf die Unterschriften der Lehrer.

Ich musste in meiner Betroffenheit eingestehen, dass ich selbst bisweilen an diese Möglichkeit einer sogenannten Arbeitserleichterung durch den Computer gedacht, auch mit Kollegen darüber gesprochen hatte. Aber beim Anblick dieser Zeugnisse dachte ich dann doch: »Ihr armen Kinder, wenn ihr einmal in späteren Jahren – denn erst dann vermag man so etwas zu würdigen – eure Zeugnisse anschaut, dann seht ihr etwas Entscheidendes nicht: eure Lehrer, an die ihr euch hoffentlich nicht ungern erinnert. Ihr seht sie nicht in ihrer Handschrift, denn sie leben in ihrer Handschrift, unabhängig von dem, was sie geschrieben haben.«

Die Handschriften meiner Lehrer

Ich erinnerte mich an die Handschriften einiger meiner Waldorflehrer: die kräftig auftretende Schrift meines Deutschlehrers, dem ich viel verdanke; er hatte neben seinem Studium eine Schauspielausbildung absolviert, und ich meine bei der beinahe plastischen Gestaltung seiner Buchstaben, die er »auf die Bühne« schickte, fast etwas von seiner darstellerischen Freude zu verspüren, dabei auch die leise Spur von Eitelkeit, die ich immer noch zu erkennen glaube. Oder die Schriftzüge meines Mathematiklehrers – fein ziseliert dahinfließend. Er war nicht nur ein genialer Mathematiker, sondern auch ein begeisterter Botaniker, der sich die Flora der Schwäbischen Alb gründlich erarbeitet hatte, und ein begabter Geiger, der leidenschaftlich Quartett spielte. Daneben gibt es auch Schriften, deren »Eigentümer« samt ihrer Schrift blasser in meiner Erinnerung leben.

Der französische Wissenschaftler Georges-Louis de Buffon hat 1753 gesagt: »Le style, c’est l’homme même« – »Der Stil, das ist der Mensch selbst.« Diese berühmt gewordene Äußerung darf man freilich nicht überstrapazieren, doch sind ihre Wurzeln sehr alt. Und der römische Dichter Horaz meinte: »Scribendi recte sapere est et principium et fons« – »Gut schreiben können ist Anfang und Grund.« Auch der deutsche Philosoph Arthur Schopenhauer merkt an: »Der Stil ist die Physiognomie des Geistes – […] Fremden Stil nachahmen heißt eine Maske tragen.« – Nun ist der Stil, die Art, wie man seinen Gedanken sprachliche Gestalt gibt, das eine, das man mit der Persönlichkeit des Menschen in Verbindung bringen kann, und die Handschrift, die »Spur« der Gedanken auf dem Papier, ist das andere. Die Handschriftenkunde, die Graphologie, geht ja, trotz aller kritischen Einwände, davon aus, dass sich auch in der Handschrift der Mensch zeige. Ich kann auf Grund meiner Erfahrungen nicht umhin, diese Auffassung für bedenkenswert zu halten.

Im September 2010 hörte ich eine interessante Sendung im Südwestrundfunk. Sie trug den Titel: »Ins Reine geschrieben. Vom Verschwinden der Handschrift im digitalen Zeitalter.«

Die Klangfarbe eines Menschen

In dieser Sendung kommen ganz unterschiedliche Menschen zu Wort. Sie sprechen darüber, welchen Wert die Handschrift für sie hat. Da treten auf: die »Erzählerin«, zwei Lehrer, zwei Schriftsteller und eine Erziehungswissenschaftlerin. Das, was sie aus ihrer Lebenserfahrung mitteilen, ist interessant und scheint auf den ersten Blick nicht so ganz in die Zeitströmung zu passen. Da sagt zum Beispiel der Autor Timo B.: »Ich denk’ auch, dass ein Einkaufszettel oder eine Notiz wie ›Ich komme heute später‹ einfach einen Wert haben, einen lebensweltlichen Wert.« Was mag er damit meinen? Vielleicht, dass der Empfänger, also der, der einkaufen gehen soll, und der, der auf den später Heimkehrenden nicht umsonst warten muss, aus diesen »banalen« Aufschrieben mehr entnehmen kann als eine bloße Information – wenn er denn aufgeschlossen ist.

Oder der Musiklehrer Henrik W. Er spricht von der Handschrift seiner Schüler: »Sobald ich von einer schönen Schrift rede, sehe ich dahinter wieder den Typ, also in meinem Fall dann die Schüler. Und sehe, dass sich hier einer wunderbar repräsentiert, dass ich ihn sozusagen sehen kann und hören kann, die Stimme hören kann, auch das Sehen, wie er geht zum Beispiel, der Gang, der gehört mit zu der Klangfarbe der Menschen. Ich mische das alles durcheinander, weil ich das auch so empfinde.«

Welch eine Aussage! Und er fährt fort: »Für mich ist es etwas anderes, es hat sehr viel mit Musik zu tun, mit Klangfarbe vor allen Dingen. Es ist immer ein Repräsentant eines Menschen, der dahinter steckt. Und deswegen häng’ ich so sehr an den Schülerschriften, weil ich die alle kenne. Und da ist die Handschrift gleichzeitig ein Signal für diesen Menschen, der mir sofort einfällt, dessen Biographie ich häufig kenne, dessen Schwierigkeiten ich kenne, und mit dem ich eigentlich eine Zeit lang zusammen über seine Probleme sprechen möchte, wenn ich sie erkannt habe.«

Das klingt so einfach und zugleich so einleuchtend – wenn man nur dieses ewige Nützlichkeits- und Zeitersparungsdenken einmal beiseite schiebt. Sollte es nicht die Aufgabe jedes Lehrers sein, das, was er an den Schriften seiner Schüler erlebt und schätzt, mit seiner Handschrift auch den Schülern zu vermitteln? Sollte das nicht in besonderem Maße für den Waldorflehrer gelten?

Was sagt die »Erzählerin« in der Radiosendung? »Wenn ich heute bewusst von Hand schreibe, dann will ich etwas damit ausdrücken, zeigen, dass es mir nicht allein um die Übermittlung eines bestimmten Inhaltes geht, dass mir die Form wichtig ist. Ich sage damit, dass ich mir Zeit nehme und mehr von mir preisgeben möchte als den Inhalt meiner Worte, mag er auch noch so sorgfältig formuliert sein. Meine Befindlichkeit, meine Wertschätzung, meine Anteilnahme.«

Weiter nichts zu sagen

Mit alldem habe ich noch nichts über die inhaltliche Qualität handschriftlicher Zeugnisse an Waldorfschulen gesagt. Da muss auf den naheliegenden Vorwurf eingegangen werden: Wenn inhaltlich nur Formelhaftes gesagt wird, warum dann die Handschrift, dann doch gleich mit dem Computer! Und sogar da könnte es sein, dass dieses ungewollte handschriftliche Eingeständnis: »Ich habe weiter nichts zu sagen« in der Handschrift einen höheren Wert hat, ja, im Sinne einer Enttäuschung für den Leser – wenn man einen Sinn für solche Feinheiten hat. Hinzu kommt, dass die Beschreibung eines Schülereinsatzes, die aus Leerformeln besteht, im PC-Ausdruck noch unverbindlicher, nichtssagender ist, ja dass sie geradezu beleidigend wirken kann.

Mich würde nun freilich interessieren, ob meine Überlegungen nur die sentimental-nostalgischen Regungen eines alten Mannes sind, die man mit einigen knackig-pragmatischen Gegenargumenten erledigen kann – oder, ob es sich lohnte, darüber weiter zu sprechen. Ich glaube, dass die Fruchtbarkeit und damit die Qualität der Waldorfpädagogik auch mit solchen scheinbaren Imponderabilien zu tun hat.

Zum Autor: Walter Schafarschik unterrichtete von 1968 bis 2002 die Fächer Deutsch und Geschichte; Dozent an der Freien Hochschule Stuttgart und am Eurythmeum Stuttgart.