Fragen an Kinderzeichnungen
Vergleicht man die Veränderungen von Kinderzeichnungen über einen gewissen Zeitraum, sieht man gleichsam der »Landung« des Kindes auf der Erde zu. Vom anfänglichen »Körperbild« gehen die Zeichnungen zur Darstellung von Gesehenem und Vorgestelltem über. Der Frage, was sich in diesen Darstellungen ausdrückt, geht Ulrike Staudenmaier nach.
Empfindungen, Ereignisse, Konflikte und Krankheiten, aber auch Freude und reines Wohlbefinden werden von den Kindern im Laufe ihrer Entwicklung in »Zeichen« auf das Papier gesetzt.
Mit Staunen habe ich in den Bildern den Weg von »kosmischer« Bewegung über die Darstellung eigener Körper-Entwicklung bis hin zur Abbildung von Wahrgenommenem mitvollzogen. Viele Fragen können dabei auftauchen, manche beantworten sich, wenn man das Bild nacherlebt.
Andere Bilder erschließen sich im Nachsinnen über ihren »Symbolgehalt« – das Haus, das für die eigene Körperlichkeit stehen kann, oder das Schiff, das wir irgendwann selbst in neue Gewässer steuern müssen.
Was hat es mit den Kopffüßlern auf sich?
Seit Jahren bewegt mich die Frage: Warum malen alle Kinder im Laufe ihrer Entwicklung »Kopffüßler«? Dass es »Menschendarstellungen« gibt, ehe die ersten Kopffüßler auftauchen, ist bekannt. Keine Entwicklung verläuft linear. Aber die Kopffüßler sind nicht »missglückte« Menschendarstellungen! Dazu werden sie zu lange und zu deutlich gemalt und das sicher aus einem inneren Beweggrund heraus. Vom Bild des Baumes weiß man – eventuell auch wieder nach einem oder einigen genialen »realistischen« Bäumen – dass der Baum zuerst als »Körperbaum« auftaucht. Es werden die Rückenwirbel, Rippen, Nervenenden, die Lunge oder Adern so angedeutet, dass das Kind vermeint, es habe einen »Baum« gemalt.
Dieses »organische Gedächtnis« – eine Begriffsbildung von Arno Stern –, das wir beim Baum in vielen Varianten kennen – sogar in der Kombination Baum-Mensch – drückt sich während einer bestimmten Entwicklungszeit der Kinder in ihren Bildern aus. Es sind Wachstumsprozesse oder Organvorgänge, die aus den Tiefen des Unbewussten zum Thema der Kinderzeichnungen werden, auch wenn das Kind nichts davon weiß. Denken Sie an die ersten Häuser! Der Schornstein hat den Winkel eines emporgestreckten Armes, denn das Kind erlebt seinen Körper wie ein Häuschen, in das es hineingeschlüpft ist.
Könnte nicht bei der Kopffüßler-Darstellung ein Formgeschehen gemalt werden, das uns etwas vom Prozess des Knochenwachstums mitteilt?
Man sehe sich folgende Menschendarstellungen in ihrer zeitlichen Abfolge an: Bild 1 entstand mit 4 Jahren und 7 Monaten. Das Mädchen hat sich ein großes Hochformat ausgesucht, um sich als Skifahrerin zu malen.
Bild 1
Das Auffallende ist der rote Wirbel, der in den vorher schon hellbraun gemalten Kopf gesetzt wurde und von dem die roten Beine (ebenfalls in die schon vorher hellbraun gemalten) ausgehen. Die rote Farbe betont hier eine »Kraft-Ansammlung« im Kopf, die sich in beide Beine »ergießt«.
Auf Bild 2 (vom gleichen Mädchen gemalt wie alle folgenden Bilder auch) sieht man drei Figuren, bei denen sowohl Arme als auch Beine vom Kopf ausgehen. Die Schultern sind bei der linken und der mittleren Figur braun betont. Nur das kleine Kind, das unten auf der Wiese liegt und von der linken großen Figur an der Hand gehalten wird, hat Arme, die nicht vom Kopf ausgehen – seltsam!
Bild 2
Nun kommt Bild 3, eine von vielen Baum-Mensch-Darstellungen, die aus dem Üblichen herausfällt. Erübtes setzt sich eben nicht linear fort.
Bild 3
Bild 4 greift die Menschendarstellung wieder so auf, dass Beine und Arme vom Kopf ausgehend dargestellt sind. Auf diesem Bild mischen sich die verschiedenen Erlebnisebenen sehr stark. Man erkennt an der langen Blume links mit den vielen roten »Knospen«, dass hier ein Körperprozess auftaucht, der ans Rückengeschehen erinnert. Eine andere Ebene ist die Hand in der Hosentasche, eine Spiegelung des selbst Wahrgenommenen, und das Haus wiederum zeigt so viele Fenster, dass man hier die Wachheit und Neugierde der Malerin in diesem Haus dargestellt findet.
Bild 4
Bilder werden in dem Alter zwischen 3 und 6 Jahren oft aus verschiedenen Ebenen impulsiert.
Auf Bild 5 sieht man den Menschen als fünfzackigen Stern dargestellt, in jeder Hand hält er an einem Stöckchen noch einen Fünfstern, rechts und links vom Bein sitzt je ein Zwerg (blau und rot) und den Blattrand begrenzt rechts und links je eine Tanne.
Bild 5
Wie kommt ein Kind dazu, den Menschen als fünfzackigen Stern zu malen? Er bildet ganz klar das Zentrum und ist von einem strahlenden Bogen (Tor, Aura) umgeben. Zum Fünfstern hat sich Rudolf Steiner – soweit ich weiß – nur einmal in Paris geäußert (»Kosmogonie«, 12. Vortrag, 8. Juni 1906) und ihn im Zusammenhang mit symbolischen Formen erwähnt. Aber ich denke, mit diesen Inhalten muss man behutsam umgehen und die Kinderbilder nicht »überfrachten«.
Taucht dagegen die Zweiheit so oft auf wie in dem eben geschilderten Bild, so ist im Allgemeinen ein Bewusstwerdungsprozess angedeutet, wenn er auch noch nicht vom Kind reflektiert werden kann.
Anders das Bild 6, sieben Monate später. Nun ist die Schulzeit angesagt und das Erlebte (der Zirkus) wird zum Thema. Jetzt malt das Kind ganz aus der Vorstellung.
Bild 6
Die Kopffüßler spirituell betrachtet
Betrachten wir erneut die Kopffüßler. Wie erleben Kinder im Unbewussten ihr Knochenwachstum bzw. das der Arme und Beine? Aus welcher Schicht oder von welchen Kräften werden Kinder impulsiert, Arme und Beine vom Kopf ausgehen zu lassen?
Zu dieser Frage fand ich bei Steiner in seinen »Esoterischen Betrachtungen karmischer Zusammenhänge« eine Antwort. Hier schildert er, dass in den ersten sieben Lebensjahren der ganze Mensch vom Kopf aus gebildet wird. »Jeder Knochen«, so Steiner, »ist so gebildet, wie er vom Kopf aus gebildet werden soll … «
Aus der Embryonalforschung wissen wir, dass der Kopf am markantesten und größten ist. Seine äußere Ausgestaltung ist auch vor der des übrigen Körpers abgeschlossen (mit ca. drei Jahren).
Von einem anderen Blickwinkel her formuliert Steiner die Knochenbildung in dem Buch »Grundlegendes für eine Erweiterung der Heilkunst« so: »Man wird das Gehirn des Menschen nur begreifen, wenn man in ihm die knochenbildende Tendenz sehen kann, die im allerersten Entstehen unterbrochen wird. Und man durchschaut die Knochenbildung nur dann, wenn man in ihr eine völlig zu Ende gekommene Gehirn-Impulswirkung erkennt«.
Es gibt in dem Vortragszyklus »Allgemeine Menschenkunde als Grundlage der Pädagogik« im 10. und 13. Vortrag Schilderungen von Steiner, welche die Gliedmaßenbildung betreffen.
Nun kann man sich fragen, ob Knochenbildung und Gliedmaßenbildung identisch sind. Vielleicht muss man dazu bedenken, dass Steiner dort von Schulkindern spricht. Gewissermaßen von einer anderen »Ebene« aus. Betrachtet man ein Körpergeschehen von der astralen Ebene her, ergibt sich ein anderes Bild, als es sich von der ätherischen Ebene her ergibt.
In den oben zitierten Textstellen wird die Knochenbildung vom Kopf her impulsiert gedacht. Das Wachstum betreffend, wie in der Allgemeinen Menschenkunde geschildert, strömt das Seelisch-Geistige vom Kosmos kommend durch die Gliedmaßen ein. So wird verständlich, dass das Körpergeschehen nicht nur an der Darstellung von Bäumen, Hausdächern oder Bergen (beim Zahnen) abgelesen werden kann, sondern eben auch an den Menschendarstellungen. Wenn Beine und Arme aus dem Kopf heraus wachsen, dann malt das Kind nicht in dieser Weise, weil es noch nicht anders kann, sondern weil sich seine inneren Formprozesse äußern wollen.
Das Gesundende beim spontanen Malen liegt darin, dass der oder die Malerin etwas hinaussetzen kann und sich damit in einer gewissen Weise eine »gesunde Verdauung« ermöglicht.
Alle Kinder weltweit – wenn sie die Möglichkeit zum Malen erhalten – zeichnen in einer ähnliche Formsprache, bis die von den Körperprozessen impulsierten Bilder langsam in solche übergehen, die das Kind mit »Absicht«, also durch seine Vorstellungen gesteuert, auf das Papier setzt.
Es scheint ein Urbedürfnis des Menschen zu sein, seine Entwicklung auch malend nachzuvollziehen.
Zur Autorin: Ulrike Staudenmaier ist Goldschmiedin, arbeitete als Sekretärin in der GAB e.V. München, später im Schulbüro der Rudolf-Steiner-Schule München Daglfing.
Literatur:
Rudolf Steiner: Esoterische Betrachtungen karmischer Zusammenhänge, GA 236, 10. Vortrag vom 16. Mai 1924, Dornach 1988 | Rudolf Steiner und Ita Wegman: Grundlegendes für eine Erweiterung der Heilkunst nach geisteswissenschaftlichen Erkenntnissen, GA 27, Dornach 1984 | Rudolf Steiner: Allgemeine Menschenkunde als Grundlage der Pädagogik, GA 293, Dornach 1968
Erik , 28.06.17 12:06
Diesen Artikel fand ich sehr interessant. Inzwischen ist ja von der gleichen Autorin
das Buch: "Kinderzeichnungen, betrachten bewegen bedenken" erschienen und dort
findet man noch manches Interessante zu anderen Themen, die die Kinderzeichnungen
betreffen.
Warum die "Kopffüssler" dort nur erwähnt werden ist mir eine Frage.
Vielleicht will die Autorin nicht soviele Steiner-Zitate ihren Lesern zumuten???
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