Die beiden Schulleiterinnen Margaret Frances Cross (1866–1962) und Hannah Clark (1845–1934) waren aufgeschlossen für neue Erziehungsmethoden. Ihre Priory School, ein kleines Internat nordwestlich von London, war in einem von König Edward I. gegründeten dominikanischen Kloster untergebracht. Sie praktizierten dort Koedukation, was damals ziemlich außergewöhnlich war, es gab vegetarische Ernährung und Schüler und Lehrer verantworteten die Hauswirtschaft gemeinsam.
Margaret Cross interessierte sich besonders für die Pädagogik Maria Montessoris und besuchte regelmäßig Tagungen, wo sie die erste britische Professorin für Erziehungswissenschaften, Millicent Mackenzie (1863–1942), kennenlernte. Von ihr wurden sie wie auch einige andere britische Lehrer eingeladen, mit nach Dornach zu kommen, um Vorträge Rudolf Steiners zu hören.
Diese Reise kam tatsächlich im Dezember 1921 zustande und dadurch erhielten sie die Chance, den Weihnachtskurs Rudolf Steiners für Lehrer vom 23. Dezember 1921 bis zum 7. Januar 1922 zu hören. Im April 1922 fuhr Margaret Cross nach Stratford-on-Avon, um erneut einen Vortrag Rudolf Steiners mitzuerleben. Während dieser Reise, am 16. April 1922, stattete Rudolf Steiner auch der Priory School in Kings Langley einen Besuch ab.
Kurz darauf entschlossen sich Margaret Cross und Hannah Clark ihre Schule in eine Waldorfschule umzuwandeln. Steiner selbst deutete an, dass es dort mancherlei Schwierigkeiten zu überwinden geben werde. Und im Leben zeigte sich dann auch, dass die Lehrer der Priory School trotz der pädagogischen Neuerungen und der Aufgeschlossenheit für neue Erziehungsmethoden wegen der altmodischen und unumgänglichen Art der Leiterin keine lange Verweildauer hatten.
Die Kollegen der Stuttgarter Waldorfschule unterstützten die Schule in der Gründungsphase mit längeren Hospitationsphasen. Doch die Schule verlor zunehmend an Attraktivität. Bis 1928 ging die Zahl der Schüler auf 22 zurück; wohl auch, weil die Kälte im Winter und die unbefriedigenden Lebensumstände kaum auszuhalten waren.
Es kamen immer wieder neue Kollegen, die der Schule Auftrieb verleihen sollten. Zu ihnen gehörte William Harrer (1905–1978), ein Ingenieur aus Deutschland, der den Nationalsozialismus nicht stumm mittragen wollte und emigrierte. 1939 bat Margaret Cross Juliet Compton-Burnett (1893–1984) an die Schule zu kommen und dort Eurythmie zu unterrichten. Juliet Compton-Burnett fand bald Gefallen am Unterrichten und baute auch einen kleinen Kindergarten auf, aus dem 1941 schon eine kleine kombinierte 1./2. Klasse entstand. Um den neuen Impuls in Kings Langley am Leben zu erhalten, bat sie ihre Schwester Vera Compton-Burnett (1891-1985) ebenfalls nach Kings Langley zu ziehen und die nächste erste Klasse zu übernehmen. Getreu dem Auftrag Rudolf Steiners, die Eurythmie nach England zu bringen, bauten die Schwestern die erste Eurythmieschule in London auf. Sie kannten Rudolf und Marie Steiner und waren seit 1922 in Stuttgart bei Alice Fels und in Dornach bei Lucy Neuscheller und Annemarie Donath ausgebildet worden.
Nach einer Aufführung in Dornach 1924 bemerkte Marie Steiner zu Vera, dass sie noch sehr viele Lücken habe. Rudolf Steiner allerdings war von dieser Bemerkung nicht beeindruckt und unterstrich, dass es für England notwendig sei, dass sie zurückkehre. »Sie werden es sehr gut machen und werden immer wieder zu uns zurückkommen.« Zurück in Kings Langley gaben sie sowohl den Eurythmie- als auch den Klassenlehrerunterricht. Klasse für Klasse wurde eröffnet und der Schule schien ein neues Wachstum mit einem kräftigen Kollegium bevorzustehen. Margaret Cross konnte sich mit dieser Art der Zusammenarbeit allerdings nicht anfreunden.
1949 wurde auf dem Nachbargrundstück der Grundstein für die New School gelegt, die 2019 geschlossene Rudolf Steiner Schule Kings Langley. Die Schule wuchs und die Zahl der Kinder nahm schnell zu. Juliet Compton-Burnett führte eine Klasse bis zur achten und dann noch zwei weitere Klassen, die sie unterwegs übernahm, weil deren Lehrer die Schule verließen. Judith Brown, eine ihrer ehemaligen Schülerinnen, erinnerte sich lebhaft an Miss Vera und Miss Judy als die prägendsten moralischen Autoritäten der Schule.
Auch der Musikunterricht wurde von Miss Judy gegeben. Sie blieb trotz ihrer Erblindung bis in ihr hohes Alter an der Schule. Noch mit 88 Jahren arbeitete sie drei volle Tage pro Woche und übte mit Kindern an deren sprachlicher Ausdrucksweise. Von ihrer Weisheit und ihrem Mut zur Wahrheit waren die jüngeren Kollegen tief beeindruckt.
Literatur: N. Göbel: Die Waldorfschule und ihre Menschen. Weltweit. Geschichte und Geschichten. 1919 bis 2019 (3 Bände), Stuttgart 2019