Frei und öffentlich

Henning Kullak-Ublick

Eine der großen Errungenschaften des Grundgesetzes ist, dass es nach den Erfahrungen der Nazi-Herrschaft ausdrücklich die Gründung und den Betrieb unabhängiger Schulen als Bürgerrecht verankert hat. Im Unterschied zu zentralistischen Staatsformen stützt sich eine Zivilgesellschaft auf die individuelle Initiative und Verantwortungsbereitschaft mündiger Bürger, was selbstverständlich die Fragen nach dem Wesen, den Aufgaben und der Ausgestaltung der Schule einschließt – und ihre freie Zugänglichkeit.

Chancenungleichheit entsteht nicht durch ein vielfältiges Angebot, sondern durch Schulgesetze, die die Schüler unabhängiger Schulen finanziell benachteiligen und die Schulen dadurch zwingen, ihre Kosten über Elternbeiträge oder Drittmittel zu decken. Würden Schulen hingegen nach der Zahl ihrer Schüler statt nach ihrem Träger finanziert, wäre das das wirksamste Mittel, um den Eltern wirklich eine Wahl zu geben. Obwohl sich auch heute alle freien und gemeinnützigen Schulen über Solidargemeinschaften darum bemühen, niemanden aus finanziellen Gründen auszuschließen, wirkt sich die politisch leider gewollte Hemmschwelle besonders in sozio-ökonomisch benachteiligten Regionen aus, weil es viel schwieriger ist, dort überhaupt eine freie Schule zu betreiben.

Wenn es der GEW wirklich um Chancengleichheit ginge, sollte sie sich für Chancenvielfalt, statt für noch mehr staatliche Vereinheitlichung einsetzen. Die gravierendste Form der sozialen Selektion spielt sich in Deutschland innerhalb des staatlichen Schulwesens ab, indem bereits Kinder, die noch nicht einmal die Pubertät erreicht haben, in unterschiedliche Schullaufbahnen einsortiert werden.

Waldorfschulen lehnen diesen Wettlauf um Lebenschancen bereits im Grundschulalter entschieden ab. Diese Selektion durch Anpassung überlagert das größte Kapital der Kinder, neugierig und mit Interesse in die Welt zu schauen und sich dadurch wirklich mit ihr zu verbinden. Allerdings ist es eins, die freie Zugänglichkeit aller Schulen zu fordern und ein anderes, das auch intern konsequent umzusetzen. Tun wir das? Ist uns jedes Kind willkommen? Was wäre, wenn wir – der Bund der Freien Waldorfschulen – türkisches, arabisches und sprachlich einfaches Informationsmaterial zur Verfügung stellten?

Waldorf 100 war und ist eine wunderbare Gelegenheit, über Grenzen hinauszublicken und neu zu entdecken, was uns als Menschen weltweit verbindet. Schaffen wir das auch innerhalb Deutschlands? Wie 1919, als eine Schule für die Arbeiter einer Tabakfabrik gegründet wurde?