Frei zu sein ist schwer

Anna Magdalena Claus

»In der 12. Klasse werden wir auf die Fresse fliegen«, sagt eine Schülerin der 11. Klasse in einem Gespräch nach dem Unterricht. Für sie und ihre Klassenkameraden werden in den kommenden Wochen die Beratungsgespräche zu den Schulabschlüssen stattfinden; in der vergangenen Schulstunde sah sich die Klassenlehrerin gezwungen, von einer schlechten Arbeitshaltung, Fehleinschätzungen des eigenen Leistungs­niveaus und Unselbstständigkeit zu sprechen.

»Mit dem, was ich jetzt sage, mache ich mir vielleicht Feinde, kommentiert eine andere Schülerin, »aber was wir brauchen, ist mehr Druck!«. Mehr als zehn Jahre lang besuchen wir eine alternative Schule, die versucht, die Schüler ohne Leistungsdruck und verkrampftes Lernen zu bilden und dann kommen wir in der 11. Klasse darauf, »einfach mehr Druck zu brauchen«?

»Das Problem liegt bei uns«, mischt sich eine weitere Schülerin in das Gespräch. »Wir müssen doch in der Lage sein, im Alter von 17 Jahren für uns Verantwortung zu übernehmen und uns die Frage zu stellen, ob wir für die Lehrer oder allein für uns lernen?«

Einige nicken zustimmend. Sie hat Recht mit dem, was sie sagt, und dieser Satz ist wohl auch jedem Schüler bekannt. »Die Lehrer sagen uns ja auch, dass wir selbstständig mehr für die Schule tun müssen, aber es kommt nicht an!«

Warum können wir diesen Ratschlag nicht in die Tat umsetzen? Bei einigen Lehrern fehlt die Konsequenz, darüber sind sich alle in der diskutierenden Gruppe einig. Die Lehrer sind, was Konsequenz betrifft, in der Zwickmühle.

Sollen sie, zum Beispiel nach einem angekündigten Ab­gabetermin, keine Aufsätze mehr annehmen oder sollen sie weiter auf der Abgabe bestehen, um die Fähigkeiten des Schülers trotzdem zu fordern?

Eine der anwesenden Schülerinnen kennt kompromisslose Konsequenzen – sie wechselte vor einem Jahr von einer staatlichen Schule auf die Waldorfschule. »Ich glaube, mit dem Druck geht schnell das Interesse an dem behandelten Stoff verloren, man lernt ausschließlich für die Schule und sobald man diese nachmittags verlässt, kann man mit seinem Wissen nichts mehr anfangen.« Mag sein, dass die Gleichung mehr Druck = mehr Leistung stimmt, doch welche Art von Leistung entsteht mit Druck und wie nachhaltig ist sie?

Ich komme zu dem Schluss, dass wir Schüler versuchen sollten, an der Herausforderung zu wachsen, für uns selbst verantwortlich zu sein. Es ist nicht leicht, ohne strenge Regeln und Druck sich selbst zu bewegen, das kann man rück­blickend am Römischen Reich sehen. Um 40 v. Chr. fiel es von einer Republik zurück ins Kaisertum. Die Menschen waren anscheinend noch nicht reif für eine Gesellschaft, in der jeder einzelne sich als ein selbstständiges Wesen definiert. Denn Machtstrukturen schränken das Handeln ein, entlasten aber zugleich. Individualität, eine Schwester der Selbstverantwortung, kann sich eben nicht entwickeln, ohne dass andere Fähigkeiten mitwachsen. Dazu gehören Mut, eine starke Selbstwahrnehmung und ein Bewusstsein für andere Menschen – denn nur in Abgrenzung zu ihnen kann man sich unter­scheiden.

Schön und gut. Und was heißt das jetzt? Ja, wir werden »auf die Fresse fliegen«, aber ich habe fest vor, mich alleine aufzurichten und dann vorerst stehen zu bleiben. 

Die Autorin ist Schülerin der 12. Klasse. Ihren Beitrag entnehmen wir mit freundlicher Genehmigung der Schülerzeitschrift »eckbrief« der Freien Waldorfschule Uhlandshöhe, Stuttgart.