Freier Fall

Joseph Bailey

Man findet sich als Leser vor ein Buch gestellt, welches höchstens die Kontinuität aufweist, die der Leser ihm mitteilt, und das laut Widmung »für mich« ist. Das heißt, von Kontinuität scheint höchstens insofern die Rede sein zu können, als der Leser – zwischen den einzelnen Aphorismen innehaltend – sich selbst wiederfindet.

Wenn jeder Aphorismus für sich steht, heißt das, dass sich von keinem einzelnen auf das Ganze schließen lässt? Vielleicht doch, denn einer dieser 464 Aphorismen ist zugleich der Titel des Buches. Der in »freiem Fall« Befindliche hat (oder wurde) losgelassen. Nur den, der nicht mehr festgehalten wird, nur den, der sich befreit, kann ein Geistesblitz treffen. Das ist ein »Einzelfall« – und zugleich eine Manifestation des Alls.

Mitunter ist dieses Buch eine Anleitung, wie es selbst zu lesen ist. Genauer: Manche der in ihm enthaltenen Sätze leiten dazu an. Immer wieder kommen Aphorismen vor, die von Aphorismen handeln. »Wer immer gleich zu den ›Inhalten‹ kommen will, ist besonders inhaltslos. Das Innehalten ist eine ihm unbekannte Tugend.« Dieser Aphorismus lässt sich auf das Buch als Ganzes beziehen: Wer zu dessen »Inhalten« kommen will, verfehlt sie. Es bedarf des »Innehaltens«. Jeder in diesem Buch erschlossene Inhalt entspringt der Konfrontation des Lesers mit sich selbst: Diese Aphorismen liest, wer sie aufmerksam liest. Auch wenn man sich immer wieder dabei ertappt, wie man in die Inhaltsfalle getappt ist, statt innezuhalten, und so gelegentlich auf (für einen selbst) taube Aphorismen stößt, findet sich doch unfehlbar das nächste »Donnerwetterleuchten«.

Die Schlegels und Novalis sprachen in diesem Zusammenhang von »Witz«. Philip Kovces Aphorismensammlung: ein Witzebuch der edleren Sorte?

Philip Kovce: Der freie Fall des Menschen ist der Einzelfall. Aphorismen, geb., 124 S., EUR 14,90, Futurum Verlag, Basel 2015