Freiheit statt Willkür
Reden wir mal über die Freiheit. Es gibt ein wunderbares Bild, das wir im letzten Jahr – Sie erinnern sich? 2019? – oft verwendet haben, um Waldorf 100 zu erklären: Drei pakistanische Jungen balancieren in ihren Schuluniformen auf einer komplett zerfledderten Behelfsbrücke über einen ebenso breiten wie reißenden, braun verwirbelten Strom, der ihr Dorf von ihrer Schule trennt. Was zieht sie so sehr an, dass sie zweimal täglich dieser Gefahr trotzen?
Der Balanceakt der Jungen auf dem Weg in ihre Zukunft ist so real wie der Balanceakt der Freiheit, die, wie der Frieden oder die Liebe, niemals gesichert ist. Was der Strom für die Jungen ist, sind zwei nicht minder gefährliche Wegelagerer für die Freiheit: Willkür und Beliebigkeit. Was die eine erzwingt, lässt die andere verwehen.
Die Waldorfschule ist das erstgeborene Kind einer Bewegung, die nach den Schrecken des Ersten Weltkriegs Freiheit für das Geistes- und Kulturleben forderte, Gleichheit in einem Rechtsstaat und eine Marktwirtschaft, die nicht auf Lohnabhängigkeit und Profitmaximierung, sondern auf der Zusammenarbeit der Menschen in ihrer Verantwortung für die Ressourcen und das Leben der Erde beruht: Brüderlichkeit. Freiheit, Demokratie und die Liebe zur Welt sind Ideen, die unsere Fähigkeit, selbstständig zu denken, mit anderen zu fühlen und verantwortlich zu handeln, zum Überleben brauchen.
Deshalb ist auch die Meinungsfreiheit ein sehr hohes und schützenswertes Gut. Meinung ist aber immer persönlich, während ein freies Geistesleben die Unabhängigkeit der Medien, der wissenschaftlichen, kulturellen und Bildungs-Einrichtungen vor politischer, ideologischer oder wirtschaftlicher Instrumentalisierung sicherstellen will. Wenn sich, wie immer öfter geschehen, Menschen bei Querdenker-Demos neben Neonazis oder Reichsbürger stellen, in sozialen Medien Verschwörungsmythen verbreiten oder sonstwelche Panikattacken öffentlich zelebrieren, tun sie das im Rahmen ihrer Meinungsfreiheit. Wenn sie sich dabei allerdings auf ihre Verbindung mit einer Waldorfschule berufen, fällt das in den Bereich der Willkür, ihrer Willkür. Und wenn sie das dann auch noch im Namen des »freien Geisteslebens« tun, wird dieser Begriff beliebig.
Dass in den letzten Monaten fast alle überregionalen Medien irgendwann »Reichsbürger, Neonazis, Esoteriker, Impfgegner und Anthroposophen« in eine Reihe gestellt haben, verdanken wir solchen im besten Fall naiven Auftritten, die keineswegs repräsentativ waren und von denen sich der Bund der Freien Waldorfschulen ausdrücklich distanziert hat – von dem meist unterirdischen journalistischen Niveau dieser Artikel einmal abgesehen.
Der Balanceakt zur Freiheit kann nur gelingen, wenn wir den Kampf mit den Wegelagerern erst einmal mit uns selbst ausmachen, statt mit dem Finger auf irgendwelche Bösewichter zu zeigen und uns dadurch auf der Seite der Guten zu wähnen.
Wilhelm-Ernst-Barkhoff sagte es so: »Die Angst vor einer Zukunft, die wir fürchten, können wir nur überwinden durch Bilder einer Zukunft, die wir wollen.« Wie die Jungs in Pakistan.
Ingo Meyer, 04.11.20 23:11
Es drängt sich der Eindruck auf, dass der Verfasser sich noch nie eine Querdenker-Demo selbst angeschaut hat. Gerade dort sind Brüderlichkeit, Freiheit, Demokratie und die Liebe zur Welt die bestimmenden Inhalte. Ich habe dort selten jemanden gesehen, der Verschwörungsmythen verbreitete, noch nie, dass dabei jemand eine Verbindung zur Waldorfschule hergestellt hätte. Mir wäre es gerade in dieser Zeit wichtig, dass sich auch die Waldorfschulen – gelebt in der Schule, aber auch in der Außendarstellung – für alle sichtbar für Verbundenheit (statt Spaltung), Freiheit, Demokratie und die Liebe zur Welt einsetzen, anstatt, nur als Beispiel, die Kinder kritiklos mit Masken zu drangsalieren und so sich gegenseitig zu entfremden.
Die aktuelle Haltung der Waldorfinstitutionen ist für viele Waldorfeltern und Schüler eine riesengroße Enttäuschung, von der sie sich lange nicht erholen werden.
Peter Feuerstack, 04.11.20 23:11
Günstig wäre es, wenn die Waldorfschulen in dieser Zeit angemessen Stellung beziehen würden. Dann könnten sie auch nicht so leicht mit Verschwörungsmythen in Verbindung gebracht werden. Das ohnehin nur ein Artefakt in der Presse, aber weniger auf Demos. Haltet Euch mehr an Steiner:
„Besonders muß man sich aber hüten, in irgendeinem Zeitalter darauf Rücksicht zu nehmen, was in dem Zeitalter gerade als Autorität auftritt. Solange man nicht spirituelle Einsicht hat, wird man da sehr fehlgehen können." (Lit.:GA 127, S. 22)
Christoph Hueck, Tübingen, 05.11.20 23:11
Ich weiß nicht, ob ich mich wundern soll über so viel Beliebigkeit oder verzweifelt sein soll über so viel Willkür. Wie ist es möglich, dass Henning Kullak-Ublick als Repräsentant der Freien (?) Waldorfschulen die öffentliche Diffamierungskampagne gegen Corona-Kritiker ohne jegliche Differenzierung seines Urteils einfach schablonenhaft nachredet?
»Frei« stand einmal dafür, dass die Waldorfschulen Kämpfer waren für ein anderes, nicht materialistisches Menschenbild, für eine andere Art des Umgangs miteinander, für eine andere Gesellschaftsform. Ich frage mich, wofür es heute noch steht.
Soll denn die Waldorfpädagogik nicht zur Ausbildung einer eigenständigen, differenzierten und wirklichkeitsgemäßen Urteilsfähigkeit führen? Im obigen Beitrag wird jedoch mit hohlen Schlagworten moralisiert, dass es ein Gruseln ist. Ob es die Waldorfschulen – vor was eigentlich? – schützt, wenn sie sich die diffamierende und verlogene Ausdrucksweise der Medien zu eigen machen?
Wer sich vor den Karren der öffentlichen Meinung spannen lässt, wird von ihm früher oder später in den Abgrund gerissen. Maskenpflicht, Abstandsregeln, Waschzwang, Digitalunterricht, Angst, kollektiver Gehorsam, Denunziation: Waldorfpädagogen könn(t)en wissen, was solche Erlebnisse mit Kindern machen. Lassen sie nicht die innere Seele der Waldorfschule verdorren?
Gerade Waldorfpädagogen sollten sich gegen diesen zutiefst materialistischen Strom stellen, ja mit allen Kräften gegen ihn aufbegehren, anstatt sich von ihm einlullen zu lassen. Aber bequemer ist es schon, sich stattdessen von ein paar angeblich naiven, unterirdisch schlecht schreibenden Impfgegnern und Anthroposophen »ausdrücklich zu distanzieren«. (Ich persönlich zähle mich übrigens keinesfalls zu den Impfgegnern, sehr wohl aber zu den Impfpflichtgegnern – um wenigstens ein klein wenig zu differenzieren.)
Eva Sagemüller, 07.11.20 09:11
Der STANDPUNKT bringt es auf den Punkt. Zu viel Unterschiedliches, auch Gegensätzliches, versammelt sich unter dem #Freiheit. Berechtigtes, Verworrenes, Naives, aber auch Gefährliches. Oft weit entfernt von der philosophischen, erkenntnistheoretischen Begrifflichkeit. Eine Freiheit haben wir alle aber auf jeden Fall: Zusammenkünfte und Plattformen zu verlassen, sobald sich auch nur der Zipfel einer Reichsflagge zeigt oder völkische Gemeinschaften für sich werben. Auch Waldorfschulen sind derartigen Infiltrationsversuchen ausgesetzt, und es ist im eigenen Interesse nötig, dem dezidiert entgegenzuwirken.
Jens Müller, 15.11.20 08:11
Guten Tag Herr Kullak-Ublick,
Nach dem Lesen Ihres ansonsten lesenswerten Artikels »Freiheit statt Willkür«, habe ich mich an folgender Passage gestört:
Sie schreiben, dass in jüngerer Zeit es immer wieder geschah, dass sich Bürger neben Rechtsradikale stellten und in dem Zuge auch Bürger, die sich im genannten Zusammenhang zum anthroposophischen Menschenbild bekennen. Diese trügen dazu bei, dass die Anthroposophie im Allgemeinen nun in der Öffentlichkeit schlecht dargestellt wird.
Zur Zeit meiner Ausbildung, auf anthroposophischer Grundlage, konnte ich erleben, wie in den öffentlichen Medien, Rudolf Steiner und die Anthroposophie als rassistisch und autoritär dargestellt wurden. Beides konnte ich im eigenen Erleben nicht bestätigt sehen. Zitiert wurde in Teilen der öffentlichen Medien des Öfteren ein Satz Steiners, der veranschaulichen sollte, wie autoritär Steiner war. Sinngemäß zitiert, war das in etwa: »Steiner verlangte von seinen Jüngern absoluten Gehorsam. Niemals dürfen meine Erkenntnisse aus der geistigen Welt in Zweifel gestellt werden...« usw.
Den Satz las ich vorher bei Steiner, nun aber etwas anders. So stand, sinngemäß, geschrieben: »Der Geheimschüler solle zu sich selbst sagen: niemals sollen Zweifel aufkommen an den Erkenntnissen, die ich auf geistiger Ebene mache...« usw.
Sie wissen um die Details wahrscheinlich besser Bescheid, als ich.
Jetzt möchte ich Sie an dieser Stelle fragen, ob Sie es nicht für möglich halten, dass auch diesmal wieder, die öffentlichen Medien die Realität verzerrt darstellen?
Ich war in Konstanz, in Lörrach (mehrfach), und in Freiburg bei einigen »Querdenken-Demos«. Wie vor etwa 15 Jahren, erlebe ich abermals, dass die erzeugten Bilder der öffentlichen Medien die Realität völlig verzerrt darstellen. In Freiburg hörte ich den anthroposophischen Arzt, Dr. Thomas Külken sprechen, und kann mir nicht vorstellen, dass Sie ihn, oder auch einige Autoren meinen, die in der Info3 einige Artikel zum Corona-Thema veröffentlichten, wenn Sie von einem »unterirdischen journalistischen Niveau« schreiben. Die Ansichten von Valentin Wember werden Ihnen wohl auch nicht entgangen sein.
Wenn in den Zeitungen, oder im Fernsehen, immer und immer wieder Bilder von Schwarz/Weiß/Roten Fahnen und Hippie-Fahnen zusammen gezeigt werden und dazu immer und immer wieder das Mantra: »Aluhüte, Impfgegner, Linke und Neonazis, Antisemiten, Coronaleugner etc. gehen gemeinsam auf die Straße« postuliert wird, ist die Darstellung in etwa genauso schräg, wie die Darstellung, Steiner sei ein autoritärer Rassist gewesen.
Dazu möchte ich anmerken, dass die oben genannte Art der Darstellung ein Griff in die Trickkiste der Propaganda sein könnte. Wiederholung von immer gleichgearteten Bildern, zusammen mit Wörtern wie „Coronaleugner“ lassen den Fernsehzuschauer, oder Leser leicht die unbewusste Überquerung der Gedankenbrücke marschieren, die den Trugschluss impliziert, ein Coronaleugner muss wohl so was ähnlich Schlimmes sein, wie ein Holocaustleugner.
Persönlich habe ich noch niemanden kennengelernt, der die Existenz dieses Virus in Frage stellt. Die Kritik bezieht sich eher auf die Art der Maßnahmen, die Abwägung der Schäden des Lockdowns und anderer »Maßnahmen« gegenüber des Nutzens (weltweit), die tatsächliche Gefährlichkeit dieses »neuen« Virus usw. und die Folgen und Gefahren für die Gesellschaft durch das Infektionsschutzgesetz, die Aberkennung der Systemrelevanz der Kunst/Musik/Kultur, usw.
Den Anteil der »Rechten« bei den Querdenkerdemos kann ich aus meinem eigenen Erleben und meinen selbst gesehenen Bildern nicht mit den Darstellungen der öffentlichen Medien in Einklang bringen, kann mir aber auch leicht vorstellen, dass die »Rechten« sehr wohl am Rande der Demos im Osten Deutschlands zu sehen waren. Geschätzte 95% der Demonstranten gegen die Coronamassnahmen, auch im Osten, sind sicherlich keine Rechtsradikalen. Rechte passen überhaupt nicht zu dem Kern der deutlichen Mehrheit der Demonstranten. Die Anfänge der Massenpsychologie und dessen Einsatz begann zum Teil schon vor den Zeiten Steiners, und diese Erkenntnisse sind bis heute perfektioniert wurden. (z.B. Gustave Le Bon »Psychologie der Massen«) und Edward Bernays (letztgenannter ist von Daniele Ganser in einem seiner Vorträge über Propaganda des Öfteren zitiert worden) waren die Gründerväter der Massenpsychologie und wussten schon vor über 100 Jahren, wie sich Menschen und Mehrheiten gewinnen und beeinflussen lassen. Die Erkenntnisse Rudolf Steiners können dazu beitragen, dieser Art der Medienmanipulation ein inneres »Schutzschild« entgegenzusetzen.
Eine Überquerung der Brücke über einen Strom der absichtlichen Fehlinformation, der Denunzierung, und den fatalen Folgen einer Installation eines »Coronaregimes«, welches sich in der hiesigen Zeit, mit Hilfe der Massenmedien und eines Infektionsschutzgesetzes, welches einem Ermächtigungsgesetz gleich kommt, etablieren will, welches an düsterste Zeiten erinnern lassen, ist jetzt wichtiger, als sich durch die Medienbilder von Regenbogenfahnen zusammen mit Schwarz/Weiß/Roten Fahnen, ins Bockshorn jagen zu lassen.
Letzteres, Herr Kullak-Ublick würde ich Ihnen natürlich niemals unterstellen.
Es grüßt, langsam verzweifelnd,
Jens Müller
Henning Kullak-Ublick, 15.11.20 08:11
Sehr geehrter Herr Müller,
ich wünschte, ich könnte Ihnen uneingeschränkt zustimmen! Leider ist das nicht so, schon weil sich Ihre E-Mail im Tonfall so positiv von sehr vielen E-Mails absetzt, die täglich bei mir zu diesem Thema eingehen.
Leider kann ich nicht auf alle Punkte eingehen, die Sie angesprochen haben, aber ich kann Ihnen versichern, dass ich mich (fortlaufend) damit auseinandersetze.
Vorab möchte ich aber eins richtigstellen: Mit dem »unterirdischen journalistischen Niveau« meinte ich nicht die Kritiker der Corona-Maßnahmen, sondern die Berichte vieler Journalisten, die über die Corona Demos berichtet haben. Das geht aus dem Text eigentlich auch hervor, aber dieses Missverständnis ist mir inzwischen mehrmals begegnet.
Dennoch ist die Auseinandersetzung keineswegs so an der Sache orientiert, wie das Ihre Eindrücke widerspiegeln. Ich habe gestern Abend beispielsweise die »zweite gemeinsame Erklärung«, die ich am 9.11.20 mit Georg Soldner, dem Leiter der medizinischen Sektion am Goetheanum, veröffentlicht habe, von unserer Facebook-Seite entfernt, weil von den 70 Kommentaren mindestens 50 so hasserfüllt waren, dass von einem vernünftigen Austausch überhaupt nicht mehr die Rede sein konnte.
Und ich kenne etliche Beispiele dafür, wie Menschen aus dem unmittelbaren Waldorfumfeld sich mit rechtsradikalen, knallhart verschwörungsmythischen und teilweise extrem aggressiven Äußerungen in die Debatte eingeschaltet haben.
Mir ist natürlich bewusst, dass das nicht repräsentativ ist, weder für die große Anzahl der Lehrer:innen und Eltern, noch für diejenigen, die den Coronamaßnahmen kritisch gegenüberstehen.
Ich stehe selbst vielen dieser Maßnahmen kritisch gegenüber (wofür ich, nebenbei bemerkt, wiederum von anderen angegriffen werde). Aber ich werde in meiner Sprecherfunktion sehr viel mit einer Berichterstattung konfrontiert, die durch das deplatzierte Auftreten mancher Kritiker aus unseren Reihen Immer wieder neue Nahrung bekommt. Das einfach der Ignoranz der Berichterstatter zuzuschreiben, ist unfair. Wir müssen es auch ertragen, dass wir uns gegenseitig kritisieren, auch dann, wenn wir glauben, auf der Seite der »Guten« zu stehen.
Zu Daniele Ganser, Ken Jebsen usw. möchte ich mich hier nicht äußern.
Das mag Sie nicht befriedigen, aber ich versichere Ihnen, dass mir sehr viel mehr an einem konstruktiven Gespräch liegt als an dieser Spaltung. Für die können aber nicht unbedingt diejenigen etwas, die sie beim Namen nennen.
Unsere Erklärung finden Sie hier:
https://www.waldorfschule.de/ueber-uns/corona-faq?kategorie=2_gemeinsame_Stellungnahme
Mit freundlichen Grüßen
Henning Kullak-Ublick
Nicolas M., 16.11.20 17:11
An dieser Stelle möchte ich einmal Partei für die Arbeit von Herrn Kullak-Ublick ergreifen. Die Ansichten und Kommentare, die ich verschiedenerorts aus dem anthroposophischen Umfeld lese, halte ich oft für naiv. Insbesondere wenn die Forderung an den BdFWS gestellt wird, sich überdimensional kritisch zu "Corona" zu positionieren. Auf welcher Grundlage soll dies bitte geschehen?
Herr Huecks Forderungen in dieser Kommentarspalte ist haltlos. Die Kritik an einigen Berichterstattungen in den öffentlich-rechtlichen Medien ist allemal berechtigt. Hier aber von "den" verlogenen Medien zu sprechen, die Diffamierungskampagnen fahren, halte ich für unsachlich. Zunächst sind mir "die" Medien nicht bekannt, oder gibt es hier einen Ansprechpartner für "die" Medien, einer der geradestehen muss, so wie es Herr Kullak-Ublick in seiner Sprecherfunktion für den BdFWS? Und ist die Voraussetzung für die Lüge nicht, die Wahrheit zu kennen und diese bewusst wegzulassen? Welche Wahrheit wird hier ausgespart? Und inwieweit lässt sich der BdFWS nun vor den Karren spannen?
Die Querdenker-Bewegung hat es versäumt, sich von Anfang an klar zu positionieren, und dazu gehört es, sich von verschwörungsmythischen Positionen sowie von Reichsbürgern und Rechten zu distanzieren. Dies ist jedoch nicht geschehen, entsprechend lässt sich hier niemand vor den Karren spannen, der dies öffentlich kritisiert.
Heinz Mosmann, 17.11.20 17:11
Sehr geehrter Herr Kullak-Ublick,
es ist schade, dass Sie auf die Ausführungen von Jens Müller nicht genauer eingegangen sind. Im letzten Abschnitt hat er im Grunde fast alles gesagt, was man als wacher und gewissenhafter Zeitgenosse dem gängigen Corona-Narrativ entgegenhalten muss. Stattdessen loben Sie seine Höflichkeit und nutzen das als Einstieg, um damit die hasserfüllten Kommentare zu kontrastieren, die Ihnen in Ihrer Sprecherfunktion entgegenschlagen. Das scheint Ihnen dann Grund genug zu sein, sich von jenen zu distanzieren, denen Sie pauschal »Verschwörungsmythen« und »Panikattacken« vorwerfen und deren »im besten Fall naiven Auftritten« Sie die Schuld dafür geben, dass Anthroposophie und Waldorfpädagogik in einer Reihe mit »Esoterikern« und »Impfgegnern« ins Visier einer – wie ich meine ebenso hasserfüllten – Medienöffentlichkeit gerückt seien.
Ich fürchte Sie bemerken nicht, dass Sie eben das tun, was Sie beklagen. Es ist natürlich Ihr gutes Recht, die Querdenker-Bewegung und die Ideen ihrer Anhänger abzulehnen, aber irgendwelche Verbalattacken im Internet als Rechtfertigung dafür heranzuziehen, ist absurd. Diese Art der Argumentation ist mir nicht unbekannt, ich erlebe sie an mir selbst und in meinem Umfeld immer wieder, neigen wir doch dazu, mit fertigen Urteilen an die Probleme heranzugehen und uns dafür Indizien zusammenzusuchen, anstatt genau hinzuschauen und uns ein wirklichkeitsgemäßes Urteil zu erarbeiten. Eine pauschalisierende Art der Betrachtung, die auf die konkrete Wirklichkeit in ihrer Komplexität nicht eingeht, sondern glaubt diese einem Links-Rechts-Schema und Gruppenurteilen unterwerfen zu können, halte ich in der gegenwärtigen Menschheitskrise für kontraproduktiv und unzeitgemäß.
Sollte es Ihnen entgangen sein, dass es gerade die Menschen sind, die sich gegen die derzeitige unheilige Allianz von Profitwirtschaft, Wissenschaft, Staatsmacht und Medienöffentlichkeit zu stellen wagen, denen der Hass entgegenschlägt? Ich kann Ihnen versichern, dass auf der Seite der staatstreuen Bürger ebenso viele, wenn nicht gar mehr primitive Emotionen zuhause sind, und dass es oftmals einem Spießrutenlauf gleichkommt, wenn man es wagt, sich auf sein eigenes Urteil zu stellen, statt im »Mainstream« mitzuschwimmen. In diesem Zusammenhang möchte ich hier Herrn Hueck und Herrn Müller danken für die ebenso mutigen wie deutlichen Worte. Ich habe mich über 35 Jahre lang bemüht, meine Schülerinnen und Schüler zu wachen und aufmerksamen Beobachtern des Zeitgeschehens und zu selbstverantwortlich handelnden freien Menschen zu erziehen, und jetzt muss ich mitansehen, wie sogar in Waldorfschulen ein Untertanengeist sich ausbreitet, in dem Andersdenkende stigmatisiert und ausgegrenzt werden. Ich weiß von Lehrern, die es nicht wagen, sich als Kritiker der offiziellen Corona-Politik und der gängigen wissenschaftlichen Meinung zu positionieren, weil ihnen sonst eine Welle der Empörung entgegenschlägt. In diesem Sinne möchte ich Mathias Maurer ergänzen, der beklagt, dass, »bei aller pädagogischen Phantasie, zu der wir uns aufgerufen fühlen können«, nicht mehr stattfindet, »was wir uns unter Waldorfschulleben vorstellen und vor Corona-Zeiten erlebt haben: die unbedrohte zwischenmenschliche Begegnung, der angstfreie Austausch …« Sie sollten als Vertreter des Bundes dazu beitragen, dass in den Schulen, in Kollegien und Elternschaft, ein freier und offener Diskurs über die uns alle erschütternden Ereignisse und den erschreckenden gesellschaftlichen Wandel dieser Tage gefördert wird, anstatt mit einer unseligen Abgrenzungs- und Ausgrenzungspolitik den Untertanengeist zu bestärken und die Spaltungen zu vertiefen.
Was Sie abschätzig als »apokalyptische Szenarien« bezeichnen, sind in der Tat Ereignisse, in denen Weichen für eine dystopische Zukunft gestellt werden, für die unsere Kinder und Enkel uns zur Verantwortung ziehen werden. Mit diplomatischen Finessen kommt man dieser Entwicklung nicht bei; wie die Geschichte zeigt, hat das Lavieren entlang staatlicher Zugeständnisse seine Grenzen. Sie können sicher sein, dass die Waldorfschulen zu den ersten gehören, die unter dem inneren und äußeren Druck der »neuen Realität« zerbrechen werden. Solange unser Rechtsstaat noch nicht völlig ausgehebelt ist, ist es unsere Pflicht, für unsere Überzeugung als Waldorfpädagogen und Anthroposophen einzustehen und die Gemeinsamkeit mit denen zu suchen, die um diesen Rechtsstaat aus gutem Grund besorgt sind. Ich bin beileibe nicht mit allem einverstanden, was sich in der »Querdenker«-Bewegung artikuliert, aber es ist eine fatale Verkennung der wirklichen Verhältnisse und eine Verdrehung der Tatsachen, wenn man den dortigen und anderen aufgeklärten Kritikern totalitärer Tendenzen die Schuld dafür zuweist, dass »Rechtsextreme, Impfgegner, Esoteriker und Verschwörungstheoretiker« in einem Atemzug genannt werden. Denn das ist in Wahrheit das Ergebnis einer erfolgreichen Propaganda, die sich auf diese Weise unliebsamer Kritik entledigt. Das könnte ich Ihnen anhand der Ereignisse der letzten Monate haarklein beweisen.
Man mag sich im Namen der »Freiheit statt Willkür« über die »im besten Fall naiven Auftritte« dieser Menschen mokieren und auf ihre vermeintlich ungenügende Abgrenzung gegen gewaltbereite Randgruppen schielen, anstatt zu versuchen, ihre Motive zu verstehen und ihre Sorgen ernstzunehmen, aber damit trägt man nicht nur zur Vertiefung der gesellschaftlichen Gräben bei, sondern stärkt auch in naiver Weise genau jene Kräfte, die gerade dabei sind, diese Freiheit zu entsorgen. Es ist ein gefährlicher Irrtum, wenn man den Mächtigen dieser Welt von vornherein moralische Integrität zuspricht, die Geschichte lehrt uns anderes. Schauen Sie sich die Protagonisten des Corona-Theaters genau an, entkleiden Sie sie ihrer Finanz- und Amtsgewalt oder ihrer Robe und schauen Sie, was dann noch übrig ist.
In einigen Jahrzehnten werden die Kinder jener Kinder, die wir gerade mit Atemschutzmasken traktieren und die wir lehren, ihre Mitmenschen als Gefahr wahrzunehmen, auf diese Tage zurückblicken und sich fragen, wo damals all die klugen Menschen waren, die ihre Eltern unterrichtet haben. Man wird ihnen sagen, sie waren teils mit ihrer Angst beschäftigt, teils damit, sich gegen rechte Randgruppen abzugrenzen. Ich glaube nicht, dass die Kinder angesichts der Tatsachen dafür viel Verständnis aufbringen werden, wie auch wir heute wenig Nachsicht haben mit den Menschen, die den totalitären Systemen des 20. Jahrhunderts den Weg bereitet haben. Es ist ein liebenswerter Gedanke, dass wir die »Angst vor der Zukunft, die wir fürchten«, überwinden können durch »Bilder einer Zukunft, die wir wollen«, aber wir sind gerade dabei, unsere Bilder von der Zukunft durch die Tatsachen, die wir schaffen, ad absurdum zu führen.
Deshalb bitte ich Sie: Helfen Sie mir dabei, das Bild der Waldorfpädagogik, wie es sich mir im Laufe der Jahrzehnte praktischer und ideeller Arbeit ergeben hat, in die Zukunft zu retten, und vergessen Sie den unsäglichen Respekt vor Öffentlichkeit und Obrigkeit. Ich bin wie Sie davon überzeugt, dass wir in unserem gesellschaftlichen Handeln stets darauf bedacht sein sollten, uns nicht von extremistischer Gewalt und von Ideologien vereinnahmen zu lassen, weder von rechts noch von links. Aber wie die Lebenswirklichkeit uns zeigt, besteht die Welt nicht aus Parteien, sondern aus zahllosen individuellen Übergängen. Wie ich mich zu verhalten habe, wird nicht durch meine Zugehörigkeit zu einer Gruppe bestimmt, auch nicht zu einer anthroposophischen. Es ergibt sich aus der jeweils ganz konkreten und einmaligen Situation, sofern ich sie nicht untätig vorübergehen lassen will, und ich bin ganz allein dafür verantwortlich. Niemand wird sich in Zukunft mehr damit aus der Verantwortung stehlen können, dass er sagt, man habe ja doch im Auftrag einer Partei, der Wissenschaft oder einer Ideologie gehandelt. Handeln wir als Menschen, nicht kraft unseres Amtes, dann dienen wir der anthroposophischen Sache und der Menschheit am besten.
Betrachtet man die Verhältnisse unter diesem übergeordneten Gesichtspunkt, wird man die ganze derzeitige Abgrenzungsrhetorik als Ablenkung von der Notwendigkeit durchschauen, sich mit der Wirklichkeit auseinanderzusetzen. Stattdessen erkennt man die ganz individuelle Aufgabe, in vielfältiger Hinsicht auf Distanz zu gehen. Darum bitte ich Sie, ihre durchaus berechtigten Bemühungen um Distanzierung auf den Gesamtumfang der gegenwärtigen Krise auszuweiten:
– Distanzieren Sie sich von einer Wissenschaft, die ein reduktionistisches Bild des Lebens und ein materialistisch fixiertes Verständnis von Gesundheit und Krankheit propagiert.
– Distanzieren Sie sich von politischen Entscheidungen, die in Nebenzimmern der Kabinette getroffen und von verschlafenen Parlamenten durchgewinkt werden.
– Distanzieren Sie sich von einer aus Steuermilliarden finanzierten politischen Propaganda, die uns auf Schritt und Tritt verfolgt, um uns für eine Doktrin zu gewinnen.
– Distanzieren Sie sich von »öffentlich-privaten Partnerschaften« im Interesse von »Stiftungen«, die ihre Milliarden durch Bereicherung und Korruption erworben haben und sich dann als Wohltäter der Menschheit präsentieren.
– Distanzieren Sie sich von den Bestrebungen, den Menschen im Namen der Gesundheit zum gläsernen Bürger zu machen und im digitalen Netz allzeit verfügbar zu halten.
– Distanzieren Sie sich von dem bewussten Schüren von Angst und der gezielten Schaffung von Bedrohungsszenarien.
– Distanzieren Sie sich von der Missachtung der menschlichen Begegnung und ihrer Verlagerung in eine virtuelle Ersatzrealität.
– Distanzieren Sie sich davon, dass den Kindern das Wesentliche ihrer Kindheit, ihre freie Beweglichkeit und ihre menschliche Unmittelbarkeit, geraubt wird und sie zu verängstigten Untertanen gemacht werden.
– Distanzieren Sie sich von der Ausgrenzung und Diskriminierung Andersdenkender im öffentlichen Diskurs.
– Distanzieren Sie sich von den Aufrufen zu gesellschaftlicher Ächtung und Denunziation.
– Distanzieren Sie sich von allen, die Anthroposophie und Waldorfpädagogik in der Öffentlichkeit verächtlich machen und bewusst schädigen.
Indem Sie sich von solchen Bestrebungen distanzieren, schaffen Sie sich den inneren Raum für freie Entscheidungen und gewinnen zugleich in der Mit- und Nachwelt an Vertrauen und Glaubwürdigkeit bei all jenen, denen das Schicksal von Erde und Mensch nicht gleichgültig ist. Damit zeigen Sie, dass die Waldorfschulen wirkliche Quellorte eines freien Geisteslebens sind. Das ist es, was die Menschheit in den sich verschärfenden Krisen der kommenden Jahre dringend benötigt.
Mit kollegialem Gruß
Heinz Mosmann
Nicolas M., 17.11.20 22:11
Sehr geehrter Herr Mosmann,
Chapeau für diesen starken Text. Mir scheint es, dass es bezüglich Ihrer Forderungen an Herrn Kullak-Ublick gar nicht das Amt des Pressesprechers braucht. Wieso schließen Sie sich nicht mit anderen Waldorflehrern zusammen und stellen in einem Positionspapier Ihre Kritik argumentativ schlüssig dar.
Dann bräuchte es keine dubiosen "Querdenker" oder Telegram-Gruppen im Hintergrund. Wenn Sie intelligent ein Schreiben veröffentlichen, dem sich weitere Waldorflehrer anschließen, wäre dies ein wichtiges und deutliches Signal.
Wichtig wäre hier nur, dass das Papier nicht zu einem Rundumschlag verkommt, das Gebiete aufgreift, von denen es besser Abstand ließe. Ich denke da an Passagen wie "Schauen Sie sich die Protagonisten des Corona-Theaters genau an, entkleiden Sie sie ihrer Finanz- und Amtsgewalt oder ihrer Robe und schauen Sie, was dann noch übrig ist." Hier vermengen Sie sachliche Kritik mit persönlicher Meinung, die leicht als verschwörungsmythisch ausgelegt werden kann.
Henning Kullak-Ublick, Hamburg, 18.11.20 09:11
Zur Klarstellung, weil Sie sich darauf beziehen, Herr Mosmann: Mir war nicht bewusst, dass meine Antwort per email an Herrn Müller hier online gestellt wird sonst hätte ich meine persönlichen Erfahrungen nicht erwähnt. Die Stellungnahmen des "Bundes" zum Thema finden Sie hier: https://www.waldorfschule.de/ueber-uns/corona-faq
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