Freiheit und Freundschaft

Henning Köhler

Dann erlebte das Sozialisations­paradigma (Eingliederung, Anpassung an gesellschaftliche Normen) ein rauschendes Comeback, die humanistische Pädagogik wurde zurückgedrängt, vor allem das Wort »Selbstverwirklichung« geriet in Misskredit. Heute ist von Individuation kaum noch die Rede. Inflationär gebrauchte Topoi wie »individuelle Förderung« oder »Potenzialentfaltung« meinen nur scheinbar dasselbe.

Das pädagogische Ideal, den Kindern eine Umgebung zu schaffen, die es ihnen ermöglicht, sich in größtmöglicher Freiheit individuell zu entfalten, muss gerettet werden. Das Gegenteil von Freiheit ist Fremdbestimmung oder, wie die Soziologen sagen, Außengesteuertheit. Der außengesteuerte Sozialcharakter ist ein übersozialisiertes, unselbständiges Wesen. Ihn peinigt die Angst vor Selbstverfehlung.

Sozialisation ist, bei Licht betrachtet, keine pädagogische Aufgabe. Vielmehr obliegt es der Pädagogik, Sozialisationszwänge, die ja ohnehin in Fülle gegeben sind, abzuschwächen. Der individuell gefestigte, selbstbewusste Mensch wird so viel Anpassung an die Gesellschaft leisten – oder eben verweigern –, wie es seinen tiefsten karmischen

Intentionen entspricht. Da haben die Erzieher eigentlich gar nichts mitzureden.

Zwei starke Bestrebungen, die von Geburt an wirken und sich aufs Wunderbarste ergänzen, laufen im Individuationsprozess zusammen: das Freiheitsstreben und das Bestreben, Freundschaften zu schließen. Freundschaft bedeutet ursprünglich: freie Beziehung. Freiheit erlebt das kleine Kind vor allem im Element der Bewegung, im zwanglosen Spiel und in der »Urheberschaft«, wie es Martin Buber ausdrückte, also darin, aus eigenem Antrieb etwas Schönes hervorzubringen; aber eben auch in freundschaftlichen Beziehungen, sei es mit anderen Kindern, sei es mit Erwachsenen. Das Streben nach Freundschaft zeigt sich besonders eindrucksvoll in den Gesten des Gebens, Teilens, Schenkens. Je mehr der frühe Freiheitsdrang des Kindes respektiert wird, je weniger wir also ständig hineinregieren in seine Entwicklung, desto früher wird es Gefallen, ja Genuss daran finden, zu geben, zu teilen, zu schenken. Inzwischen bestätigen übrigens auch Neurologen, dass es Kinder glücklicher macht, zu geben als zu nehmen. Ist die Haltung des Haben-Wollens krampfhaft übersteigert, liegt immer eine Grundverunsicherung vor. Glücklich sind die betreffenden Kinder nicht.

Natürlich müssen alle Kinder zuweilen furchtbare Egoisten sein, auch das gehört zu einer gesunden Entwicklung. Doch es macht ihnen weiß Gott keinen Spaß, sich so aufzu­führen. Sie sehnen sich nach Freiheit und Freundschaft. Individuation heißt, den Egoismus zu überwinden und hinaufzuwachsen in das Gefühl der Menschenwürde, welches vor allem dann erwacht, wenn sich Freiheit und Freundschaft verbinden. Daraus ergibt sich dann die gesunde Sozialisation.

Was das alles für die Praxis – Schulpraxis – bedeuten könnte? Ich erwarte Ihre Vorschläge!