Draußen oder drinnen – wo steckt die Freiheit?

Wolf-Ulrich Klünker

Die menschliche Existenz in der Antike kann noch als eine Einheit von zentralem und peripherem Ich beschrieben werden. Das periphere Ich wurde in der umgebenden Natur, in der zwischenmenschlichen Sozialität, aber auch im Blick auf das Du der Götter erlebt. Es gab noch keine Identifikation des Ich mit einer punktuellen Subjektivität und Innerlichkeit, mit einem eigenen inneren Zentrum. Auf das zentrale innere Ich wurde gleichsam noch wie von außen hingeblickt. Auf die Mysterienforderung »Erkenne dich selbst« wurde geantwortet: »Du bist« – nicht ich selbst bin, sondern Du, der unsterbliche Gott Apollon, bist.

Die große Befreiung, die der christliche Gedanke und seine Kulturwirkungen für die Menschheitsentwicklung bringen sollten, war die Überwindung des Todes. Damit verbunden war der Übergang vom »Du bist« zum »Ich bin«. Nachdem Lazarus von Christus auferweckt worden war und er das Grab der Erde verlassen hatte, sprach Christus zu der sozialen Umgebung dieser Individualität: »Löst ihn und lasst ihn gehen« (Joh., 11,44). 

Die Lösung oder Erlösung von den Banden der umgebenden Natur, aber auch von den Banden der körperlichen Existenz setzt die Emanzipation des Subjekts von diesen Umgebungen voraus. Das sich allmählich selbst findende zentrale Ich muss sich vom peripheren Ich differenzieren und distanzieren. Die viel beschworene Leib- und Naturfeindlichkeit des mittelalterlichen Denkens hat in dieser Freiheitsbewegung ihre Begründung. Das 13. Jahrhundert kann dann im Zuge dieser Entwicklung theologisch, psychologisch und menschenkundlich feststellen, dass in diesem zentralen, sich jetzt als Subjekt erlebenden Ich der Wille vollständig frei ist – nicht einmal der Engel oder Gott können seine Freiheit aufheben. 

Gegenüber dem Umgebungs-Ich wird eine innere Welt und eine individuelle geistige Bindung gewonnen, deren Wirklichkeit und Beständigkeit (»Ewigkeit«) sich gerade an der Distanz zur (vergänglichen) Umgebungswelt bemisst. Konsequenterweise wird in dieser Zeit in einem umfassenden wissenschaftlichen Diskurs zur (nachtodlichen) Individualität des Menschen der Ich-Begriff entwickelt: als Ergebnis damaliger psychologischer Forschung, deren wissenschaftlicher Aufwand in Quantität und Qualität die heutige naturwissenschaftliche »Spitzenforschung« in vielerlei Hinsicht übertraf. Dabei konnte man sogar absehen, dass zukünftig (freie) Ich-Entwicklung die Funktion früherer (notwendiger) Naturentwicklung übernehmen würde. Diese Erfahrung macht das Ich zunächst an sich selbst: ich muss meine Entwicklung selbst in die Hand nehmen, sobald ich bemerke, dass ich mich »natürlicherweise« weder zwischenmenschlich noch seelisch, noch geistig weiterbewegen kann.

Das Ich ist im Selbstgefühl und insbesondere im eigenständigen Denken bei sich selbst angekommen und kann sich jetzt in neuer Weise bewusst zum peripheren Ich und der kulturellen und natürlichen Umgebung in Beziehung setzen – aber in ein neues freies Verhältnis, das den »Christus in mir« voraussetzt. Ich begegne dem Gott nicht mehr wie der antike Grieche als Wirklichkeit meines peripheren Ich, sondern zentral objektiv-subjektiv und subjektiv-objektiv in mir selbst. Die Umgebung ist weder (peripheres) Ich, noch göttlich, sondern eine Wirkung des Göttlichen und im Verhältnis zu mir. Durch »innere« individuelle Tätigkeiten kann ich mich zu beiden in Beziehung setzen: zum Göttlichen durch Glaube und Wille, zur kulturellen, sozialen und natürlichen Umgebung durch Wahrnehmung und Denken.

Gefahr der Trennung

Seit die Umgebung nicht mehr als peripheres Ich erlebt wird, entsteht allerdings eine Diskrepanz, die sich in der Neuzeit zunehmend als echte Gefahr erweisen sollte, zunächst philosophisch und erkenntnistheoretisch, dann aber auch existenziell: Die Subjektivierung des Ich treibt gleichsam das Äußere immer stärker in eine abstrakte Objektivität, und je mehr das zentrale Ich für sich selbst erwacht, desto stärker empfindet es diese Subjektivität als getrennt von der Außenwelt. Schließlich erscheint die Umgebung (einschließlich des eigenen Körpers) als eine undurchdringliche »Objektivität«, als unerreichbares »Ansich«, von dem ich mir nur »subjektive«, das heißt unwirkliche Vorstellungen bilden kann. Immanuel Kant, der die philosophisch-wissenschaftliche Befreiung des Menschen aus der selbstverschuldeten Unmündigkeit mittelalterlicher Religiosität postuliert hat, zog zugleich auch einen nicht mehr zu eliminierenden Trennungsstrich zwischen dem »Fürmich« im Subjekt und dem »Ansich« im Objekt. Damit sperrte sich das befreite denkende Ich in sich selbst ein und konnte in der nun nur noch punktuell-zentral erlebten Subjektivität keine Wirklichkeit mehr erreichen. Hegel spürte deutlich, dass nur die Kraft eines vom Ich radikal verstärkten Denkens die Unfreiheit des Subjektivismus überwinden könnte; er formulierte elegant-sarkastisch, die Philosophie Kants diene als »Ruhekissen für die Faulheit des Denkens«. 

Die Lebensfolgen einer zunächst erkenntnistheoretisch vollzogenen, dann aber auch erlebten und gelebten Trennung von innerer Subjektivität und äußerer Objektivität sollten sich über die Jahrhunderte in existenziellen Wirkungen zeigen, bis zu einem Erleben des eigenen inneren Gefängnisses, bis hin zu Krankheitsformen wie Depression und Autismus. Das befreite Subjekt ist damit in der äußersten Isolation angelangt, nicht nur der Natur und dem anderen Menschen, sondern schließlich auch sich selbst gegenüber. Ich empfinde mich als ein letztlich unerreichbares »Ansich«, als eine psychologische und genetische Objektivität, der mein subjektives Erleben »für mich« hilflos und gelähmt gegenübersteht.

In der Endphase des deutschen Idealismus begann sich eine nächste Stufe der Entwicklung von Freiheit abzuzeichnen. Schelling ahnte, dass das Gegenüber der Natur wahrnehmend, erlebend und erkennend nicht mehr zu erreichen war; dass das zentrale Ich einen Willensimpuls ausbilden müsste, um die Grenze zu überwinden. Sinngemäß kam er zur Einsicht, dass der Versuch, Natur zu erkennen, voraussetzen würde, Natur zu schaffen. Mit diesem Willensimpuls und mit dieser Tätigkeit konnte die Ich-Individualität nun nicht mehr bei sich selbst bleiben und die Welt im Gegenüber nicht länger als gegeben hinnehmen. Die Zuwendung des Menschen zur Natur würde damit in letzter Konsequenz aus Freiheit eine neue Natur schaffen, die dann zwar »objektiv«, aber nicht mehr vom Menschen getrennt wäre. Die befreite Ich-Individualität bringt in freier Aktivität gleichsam eine neue, »befreite« Natur hervor. Die »Natur« des mitteleuropäischen Waldes wurde seit mindestens 150 Jahren eine reine Kulturwirkung forstlichen Denkens, und selbst die »Natur« des menschlichen Leibes ist zunehmend auf individuell selbstaktivierende Tätigkeiten angewiesen.

Anthroposophie und Zukunft

Hier konnte die Anthroposophie des beginnenden 20. Jahrhunderts ansetzen, zumindest implizit und indirekt. Freiheit wurde zu einem objektiven Entwicklungsfaktor, zu einer Kraft, aus der eine humane Kultur, eine humane Natur, schließlich sogar eine humane geistige Welt entstehen kann. Denn die Kräfte der alten »objektiven« Kultur, der alten »objektiven« Natur, aber auch der alten »objektiven« geistigen Welt, die dem Ich als gegeben gegenüberstehen, werden immer schwächer. Anthroposophie konnte vor etwa 100 Jahren darauf hinweisen, dass neben der Befreiung der Kunst eine Befreiung der Wissenschaft und auch der Religion entstehen kann, indem die Individualität »objektiv« und die äußere Objektivität sensibel für diese objektiven Kräfte der »subjektiven« Individualität werden. Damit konkretisierte Rudolf Steiner letztlich das Fazit Hegels, der Weg des Geistes sei der Umweg – nämlich durch den Menschen, durch die Natur. Indem das Ich aus der befreiten Subjektivität wieder zum früheren peripheren Ich findet, trägt es die geistigen Freiheitskräfte in alle Bereiche der Wirklichkeit hinein. 

Die objektive Welt wird zunehmend unwirklich, und die Fehlstellen müssen durch freie Wirklichkeit aus dem Ich ersetzt werden. Wirklich wird, was ich erfahren kann und worum ich mich kümmere: das historische Haus, die Insekten, die Blumenwiese können nur (weiter-)existieren, wenn ich mich dafür sensibilisiere. Auf diese Weise gewinnt die Individualität in geisteswissenschaftlicher Perspektive das periphere Ich zurück, jetzt aber als freies Gegenüber des zentralen Ichs in der Welt. Der Begriff »Geistselbst« zielt letztlich auf dieses neue Verhältnis von peripherem und zentralem Ich, meint also den Freiheitsprozess, durch den das Ich in der Welt objektiv wird. 

In seinen letzten schriftlichen Äußerungen hat Steiner darauf hingewiesen, dass die nicht vom Menschen geistig erschlossene Natur zur »Unternatur« wird: zu einem Theorie­konstrukt der »Naturwissenschaft«, das man permanent mit der früheren Natur verwechselt. In Steiners »Priesterkurs« zur Apokalypse des Johannes wird deutlich, dass neue Naturgesetze letztlich aus dem Ich hervorgehen. In diesem neuen, befreiten Verhältnis zwischen Ich und Welt, Subjekt und Objekt, zentralem und peripherem Ich liegt auch die Freiheitsmöglichkeit für das Schicksal begründet. Dem Willen kommt nun eine erweiterte menschenkundliche Bedeutung zu, weil er fähig ist, vergangenes und gegenwärtiges Karma zu befreien. »Das Denken und Fühlen des Willenslebens reißen das gegenwärtige Erdenleben aus dem karmischen Zusammenhang heraus«, so Steiner. In dieser Willensfreiheit bereitet das Ich »das Karma der Zukunft vor«.

Blickt man heute, nach fast 100 Jahren, auf die Entwicklungswirkungen der Anthroposophie als Freiheitswirklichkeit, so können sich existenziell bedeutsame menschen- kundliche Perspektiven ergeben. Die freie individuelle Intuition und Intention, auch die allerkleinste, zunächst gar nicht begründbare und in ihren Folgen zunächst nicht absehbare, wird für das eigene Leben, aber auch für jede menschliche Betrachtung immer wichtiger. Es kann sich nämlich zeigen, dass Begründungen und Rechtfertigungen oft nur noch aus weiteren Entwicklungsschritten, also aus der Zukunft möglich sind. Diese neue Dimension der alten causa finalis, also der Begründung aus der Zukunft, muss nicht ich-bezogen, egomanisch oder gar größenwahnsinnig erscheinen – wenn zugleich realisiert wird, dass ich jede Denk- und Handlungsfolge korrigieren kann (und muss), sofern ich mit vollem Ich-Bewusstsein beteiligt bleibe. 

Auf diese Weise wird Freiheit konkret zur primären ethischen Orientierung; moralisch problematisch wirkt dann in erster Linie, was entsteht, wenn ich der eigenen (kleinen) Intention, die zunächst noch gar nicht begründbar und ergründbar ist, nicht nachgehe oder sie mir nicht bewusst mache. So zeigt sich Freiheit fast paradoxerweise als Notwendigkeit. Diese Freiheit meint ein Aufwachen des Ich im Lebensaugenblick, eine innere Präsenz, mit dem Potenzial von Außenwirkung in allen Bereichen, mit denen ich verbunden bin. Eine ähnliche Wirksamkeit wurde in vergangenen Epochen dem Engel zugeschrieben; dessen Geistselbst-Kraft befreit sich und humanisiert sich damit im Menschen. Bezieht man diese Freiheitsdimension und -perspektive auf zwischenmenschliche Beziehungen, so deutet sich eine merkwürdige Verbindung an, die früher nur in der Beziehung zwischen Engel und Mensch gesehen wurde: Indem sich das freiheitsfähige zentrale Ich auf das freiheitsfähige periphere Ich wendet, das mir heute im anderen Menschen begegnet, zeigt sich die Möglichkeit einer Verbindung, die man »Zweierindividualität« nennen könnte – einer Individualität, die aus Freiheit zwischen zwei Menschen entsteht und dabei die Grenzen leiblicher Individualität transzendiert.

Literatur: G. W. F. Hegel: Werke in 20 Bänden (Theorie Werkausgabe), Frankfurt a.M. 1978; W.-U. Klünker: Wissenschaft des Ich. In: Ders. u.a.: Psychologie des Ich, Stuttgart 2016; W.-U. Klünker: Das neue Tier und der Engel. In: Das Goetheanum, 14. April 2019