Freiwilligkeit und Vertraulichkeit

Ulrike Giese

Fast jede Vorstellung des neuen Projektes »Schulsozialarbeit« in den Klassen der Freien Waldorfschule Dresden startete Ende des Jahres 2018 mit diesem Dialog. Meine Kolleg:innen und ich sind nicht an der Schule angestellt, sondern kommen als Mitarbeitende des Trägers »KINDERLAND-Sachsen e.V.« neu zur Schulgemeinschaft hinzu. Ich empfinde uns mittlerweile einerseits als Teil der Schule, aber irgendwie auch wieder nicht. Schulsozial­arbeit ist so etwas wie Kinder- und Jugendhilfe, die am Lern- und Lebensort Schule verortet ist. Wir arbeiten nach den methodischen Grundsätzen Sozialer Arbeit. Dazu zählen die Niedrigschwelligkeit der Beziehungsgestaltung, die Partizipation am Lösungsgeschehen, die Be­ziehungs-, Diversity- und Lebensweltorientierung und die oben genannten Prinzipien der Freiwilligkeit und Vertraulichkeit.

Einerseits sind diese beiden Prinzipien den Schüler:innen, die zu mir kommen, sehr wichtig. »Meine Lehrerin sagt, ich soll zu Ihnen kommen. Muss ich?« und »Das bleibt wirklich unter uns?« sind Fragen, die ich oft höre. Andererseits rufen gerade diese beiden Grundsätze in der Zusammenarbeit mit Lehrkräften und Eltern manchmal ungewollte Irritationen oder Unverständnis hervor, sind sie doch diejenigen, die den jungen Menschen längere Zeit kennen oder die genau jetzt Hilfebedarf sehen. Schwierig wird es allerdings, wenn durch diese Bedenken oder Unklarheiten Berührungsängste entstehen, diese an die Schüler:innen weitergegeben werden und sich dadurch keine Kooperation und Hilfe im Sinne des jungen Menschen entwickeln kann.

Daher ist es wichtig, mit den Erwachsenen darüber ins Gespräch zu gehen, dass es weder darum geht, als Schulsozialarbeiter:in ein Wissensmonopol über die Kinder und Jugendlichen zu beanspruchen, noch darum, die Übernahme von Verantwortung zu verweigern. Stattdessen ist der Sinn hinter den beiden Grundsätzen »Freiwilligkeit und Vertraulichkeit«, dass wir Sozialarbeiter:innen eine vertrauensvolle, bedingungsfreie Atmosphäre für die Schüler:innen schaffen möchten, die es den jungen Menschen ermöglicht, sich auch in schwierigen Lebenssituationen zu öffnen und Unterstützung zu erfahren.

Dies ist mit Zwang natürlich nicht möglich und hängt in meinen Augen auch sehr davon ab, ob die betroffene Person selbst gerade die Kraft oder den Leidensdruck empfindet, bestimmte emotional herausfordernde Themen anzugehen. Mir ist wichtig, dass die Schüler:innen wissen, dass für sie die Tür immer offensteht, auch dann, wenn sie sich erst später, ihrem eigenen Tempo entsprechend, dazu entschließen sollten, Hilfe in Anspruch zu nehmen und nicht nur zu dem Zeitpunkt, den wir Erwachsene als den richtigen erachten.

Wie bereits angedeutet ist eine Voraussetzung für diese Haltung aber auch die rechtlich und ethisch gebotene Schweigepflicht meines Berufs. Die Gemeinschaft um eine Waldorfschule herum ist transparent, vielfältig und wenig anonym. Dies hat viele Vorteile, kann aber auch dazu führen, dass Schüler:innen die Sorge haben, dass persönliche Themen weitergetragen werden, sie Stigmatisierungen befürchten und nur schwer aus bereits zugeschriebenen Rollen heraustreten können.

Gerade bei Fragen, die den Suchtmittelkonsum, das Erleiden einer psychischen Erkrankung oder auch das Erleben von (sexualisierter) Gewalt betreffen, fällt es vielen Schüler:innen schwer, sich unter diesen Umständen jemandem anzuvertrauen. Vor allem bei Menschen, die einem sonst am nächsten stehen, ist die Sorge, zu enttäuschen oder auf Ablehnung zu stoßen, meist am stärksten. Noch schwieriger wird es natürlich, wenn die erlebte Gewalt gerade von diesen nahestehenden Personen ausgeht. Wir Schulsozialarbeiter:innen bieten als neutrale erwachsene Ansprechtpartner:innen einen vorurteils- und angstfreien ersten Raum des Hilfeholens. Die Schüler:innen können sich auf einen herzlichen, aber auch Halt gebenden professionellen Umgang mit ihren Themen verlassen.

Vertraulichkeit heißt in diesem Zusammenhang jedoch nicht, dass keine Zusammenarbeit im Sinne der jungen Menschen mit Eltern, Lehrkräften oder externen Kooperationspartner:innen möglich wäre. Voraussetzung ist, dass dies unter Einbeziehung und mit Einverständnis der Kinder und Jugendlichen geschieht. Sie sollen und wollen selbst bestimmen und entscheiden, wer zu welchem Zeitpunkt was erfährt. 

Nur bei (drohender) Kindeswohlgefährdung sind wir alle zum sofortigen Handeln und gegebenenfalls Weitergeben von Informationen verpflichtet. Doch auch an dieser Stelle hat der sensible Umgang mit dem Wissen und das Schaffen von Transparenz dem Kind oder Jugendlichen gegenüber oberste Priorität. Das bedeutet, dass von uns nur so viele Personen wie nötig und so wenig wie möglich in diese privaten Thematiken mit einbezogen werden, wir die Schüler:innen grundsätzlich über jeden Schritt informieren und an Entscheidungsprozessen altersgemäß beteiligen. In unserem Büro steht ein Kinderbuch. Es trägt den Titel »Irgendwie Anders«. Darin geht es um die Begegnung im Leben mit Wesen, die eben »irgendwie anders« sind als man selbst und deren Verhalten einen zunächst verwundern und zögerlich werden lassen. Das Fazit der Geschichte ist, dass doch am Ende jeder auf seine eigene Art und Weise verschieden ist und diese Andersartigkeit nicht als etwas Negatives oder Abzulehnendes, sondern als etwas Spannendes und sich gegenseitig Ergänzendes wahrgenommen werden kann. Ich denke, dass dieses Buch gut auf die Zusammenarbeit von Waldorfschule und Kinder- und Jugendhilfe in Form von Schulsozialarbeit passt und Leitbild einer guten Kooperation werden kann.

Zur Autorin: Ulrike Giese ist Jugend- und Heimerzieherin auf anthroposophischer Grundlage und als Schulsozialarbeiterin an der Freien Waldorfschule Dresden tätig. Sie ist angestellt beim KINDERLAND-Sachsen e.V.

Literatur: K. Cave, Ch. Riddell: Irgendwie anders, Hamburg 2021