Fremdes verstehen durch Kunst

Michael Brater

Damit Interkulturalität gesellschaftlich und zwischenmenschlich gelingen kann, müssen mindestens drei Anforderungen erfüllt sein: 1.Wir begegnen dem Fremden offen und vorurteilslos (Unbefangenheit); 2.Wir haben ein Interesse, den fremden Menschen in der Besonderheit und Eigenheit seiner Kultur kennenzulernen (Diversität);  3.Wir erahnen hinter dem kulturell Andersartigen das Allgemein-Menschliche (Universalität).

Die erste Anforderung deutet auf ein grundlegendes Dilemma: Soll jemandem Fremdes, Unbekanntes vertraut werden, versucht er, es zu benennen, zu interpretieren, um es zum Teil seiner Welt zu machen. Im Fall der interkulturellen Begegnung gilt dies durchaus wechselseitig. Um zu deuten, greift man auf alles zurück, was man aus der eigenen Erfahrung, der eigenen Kultur mobilisieren kann. Wenn man sich aber über jemanden oder etwas seine Vorstellungen gebildet hat, nimmt man nicht mehr dieses Gegenüber wahr, sondern beurteilt lediglich den Grad der Übereinstimmung mit den eigenen Vorstellungen. Das Gegenüber selbst existiert für mich nur so, wie ich es auf dem Hintergrund meiner kulturellen Voraussetzungen interpretiere und damit »erschaffe« – ohne dass es eine Chance hat, sich an dieser Konstruktion zu beteiligen und sie zu beeinflussen. Manche sehen diesen Vorgang als einen Akt »symbolischer Gewalt«, der leicht in materielle Gewalt umschlagen kann.

Aneignen, ohne zu zerstören

Auf das »Aneignen« und Interpretieren des Fremden kann man nicht verzichten. Aber wie kann ich erreichen, dass nicht ich ihm meine Deutungen überstülpe, sondern dass der Fremde sich seinerseits in diesem Prozess aussprechen und ihn mitgestalten kann?

Die Begegnung mit Menschen aus fremden Kulturen verunsichert, denn sie stellen durch ihr Anderssein, auch ohne es zu wollen oder nur zu ahnen, unsere kulturellen Koordinaten in Frage. Das Anderssein des Anderen verweist auf die Relativität und Begrenztheit der eigenen Welt und ihrer kulturellen Selbstverständlichkeiten, die gar keine sind: Die interkulturelle Begegnung offenbart immer auch den »konstruierten« Charakter der Kultur als einer Möglichkeit unter vielen. Man kann nun entweder erleben, wie das Fremde mich und meine Kultur – und damit meine Identität in Frage stellt – dann wird man es abwehren, bekämpfen, merkwürdig bis absurd und unmöglich finden. Oder man wird neugierig auf die im Fremden offerierten alternativen Lösungen und Deutungen – dann wird sich der Horizont weiten. Es entsteht Freude an der Vielfalt, Begeisterung über die schöpferische Kraft des menschlichen Geistes, Interesse am Wesen, an der Eigenart des Fremden. Wir ahnen, dass dies vor allem solchen Menschen gelingt, die sich selbst ihrer Kultur bewusst und deshalb in der Lage sind, sich auf das Andere einzulassen, ohne sich dabei zu verlieren – die sich, wie Picasso sagt, »im Ungeborgenen geborgen wissen«.

In der Andersartigkeit der Fremden erkennen wir verborgene, unausgeschöpfte, nicht erahnte Möglichkeiten der eigenen Existenz. Die interkulturelle Begegnung erlaubt es, im kulturell Fremden immer wieder den Menschen hinter seinen kulturellen Prägungen und Rollenspielen zu entdecken. Gerade die interkulturelle Begegnung kann diesen »gemeinsamen« Menschen aus seinen kulturellen Gewändern »freilegen«. Türkischer Hunger ist nicht anders als griechischer, und der Schmerz eines palästinensischen Kindes über einen Verlust unterscheidet sich in nichts von dem Schmerz eines israelischen. Glück wird kulturell sehr unterschiedlich ausgedrückt, aber überall gleich empfunden. Die Menschen denken über die Rätselfragen ihres Daseins in sehr verschiedenen Sprachen nach und mögen aus den Untergründen ihrer Kulturen auch unterschiedliche Antworten formulieren, durch die sie voneinander lernen können – aber es handelt sich um die gleichen Rätselfragen, und in ihnen schafft der gleiche Erkenntniswille.

In subtiler Dialektik wird durch die Begegnung kulturell fremder Menschen gerade das zugänglich, was die Menschen als Menschen gemeinsam haben; was sie – jenseits aller kulturellen Unterschiede – als Menschen kennzeichnet und sie für das »Du-Wort« (Martin Buber) öffnet.

Interkulturalität und Transkulturalität verweisen wechselseitig aufeinander. Interkulturalität bereitet auf die konkrete Wirklichkeit des Allgemein-Menschlichen vor, das sich niemals im Uniformen, sondern stets in der Vielfalt kultureller Erscheinungen – in der kreativen und originellen Kraft des Kulturgestaltens – manifestiert.

Künstler als interkulturelle Vorbilder

Der Umgang der Künstler mit der Welt kann in vielerlei Hinsicht Vorbild der interkulturellen Begegnung sein. Künstler begegnen dem »Material«, das sie gestalten wollen – ihrem zunächst noch unbekannten »Gegenüber« – allenfalls mit Fragen, mit ersten Motiven oder Neugier. Niemals aber mit bestimmten Zielen und Absichten, was sie damit oder daraus »machen« wollen. Die künstlerische Tugend des Begegnens heißt »Unbefangenheit«. Der Maler Gerhard Richter sagt das so: »Ich … möchte am Ende ein Bild erhalten, das ich gar nicht geplant hatte … ich möchte ja gern etwas Interessanteres erhalten als das, was ich mir ausdenken kann«. Wäre das nicht auch eine Leitlinie für die interkulturelle Begegnung – eben offen und vorurteilslos zu beginnen?

Offenbar ist eine schöpferische (auch soziale) Begegnung nur möglich, wenn man dem Gegenüber in großer Offenheit gegenübertritt, ohne Absicht, ohne Plan, ohne Zweck. Auch eine Begegnung mit dem (kulturell) Fremden kann man nicht wirklich planen – ebenso wenig wie die Künstler planen, die ohne lange Überlegungen und Berechnungen einfach anfangen, eine Grundsituation schaffen mit ihrem Gegenüber. Dieser tätige Beginn ist experimentell. Er fordert zu einer Antwort heraus, in der das Gegenüber etwas über sich mitteilt. Und wenn der Künstler seinerseits auf diese Antwort wieder antwortet, erfährt er immer mehr von seinem Gegenüber. Künstler sprechen hier selbst von einem Dialog mit ihrem entstehenden Werk: »Ich stehe in einem ganz intimen Verhältnis zum Bild. Ich spreche und unterhalte mich mit ihm. Es ist ein Hin und Her und schaukelt sich hoch bis zu diesem Ergebnis« (Matthias Weischer, Maler). Aus dem Wechsel von Handeln und Wahrnehmen seiner Wirkungen, von Tun und Betrachten, Nähe und Distanz, Zugreifen und Zurücktreten entfaltet sich der künstlerische Prozess mit all seinen überraschenden Entdeckungen und vielfältigen Erscheinungen.

Dabei werden nicht nur Fakten wahrgenommen – Farben, Formen, Klänge –, sondern weit mehr: Ausdruck, Empfindung, Seelisches, »Charakter«, »Atmosphärisches«, wie der Darmstädter Philosoph Gernot Böhme sagt.

Dieser Prozess geht selbstverständlich nicht bruchlos vor sich, sondern er führt immer wieder in Krisen, in denen die Künstler nicht weiter wissen, gar nichts mehr verstehen, sich hilflos, fremd, blockiert, enttäuscht fühlen. So formuliert der Musiker Sergiu Celibidache diesen Prozess mit den Worten: »Es gibt 99 Neins und 1 Ja – und das muss man finden!« Gerade in der Krise ist es entscheidend, nicht aufzuhören, sich zurückzunehmen, offen zu bleiben für das, was sich im anderen ausspricht: »Man mag noch so mächtig sein, gewaltsam lässt sich kein Spiel wirklich zum Spielen bringen. Im Gegenteil: Wo Gewalt und Zwang herrschen, da bricht jedes freie Hin und Her, jede spielerische Kommunikation zwischen den Kräften ab« (Thomas Lehnerer, Maler). Das Kunstwerk entsteht von »hinten nach vorn« in die Zukunft. Sein Gesetz ist das der offenen Entwicklung aus dem Gegebenen, geführt und gelenkt vom empfindend wahrnehmenden Künstler. Gelingt das, berührt man etwas Objektives, Nicht-Willkürliches, etwas von allgemeiner Bedeutung. Vertraut man diesen Kräften auch im interkulturellen Miteinander, vermag eine neue, mensch­liche Welt jenseits des Trennenden entstehen.

Gelungene soziale, erst recht gelungene interkulturelle Begegnungen sind ihrem Wesen nach künstlerisch, eben »soziale Kunst«. In jeder interkulturellen Begegnung wirken künstlerisch-plastische Kräfte. Solche Begegnungen sind »Soziale Plastiken« (Shelly Sacks im Anschluss an Beuys), denen die Prinzipien und Vorgehensweisen des künstlerischen Handelns zugrunde liegen.

Die eingangs genannten drei Anforderungen für gelungene Interkulturalität sind auch Anforderungen an den künstlerischen Prozess. Dieser taugt zum Leitbild für den interkulturellen Dialog und dessen schöpferische Möglichkeiten. Deshalb kann künstlerisches Handeln und Üben zum Gelingen von Interkulturalität beitragen.

Literatur: M. Brater, S. Freygarten, E. Rahmann, M. Rainer: Kunst als Handeln – Handeln als Kunst. Was Arbeitswelt und Berufsbildung von Künstlern lernen können, Bielefeld 2011