Freunde werden im Sprachbad

Christoph Doll

Wir sind von vielen Sprachen umgeben, Migranten noch mehr als Alteingesessene: Die »Muttersprache« ist die Sprache, die in der Heimat erlebt und von den Eltern und Großeltern gesprochen wird; sie ist die Sprache der Wiegenlieder, die Sprache, in der die Welt für das Kind zu erklingen beginnt.

Die »neue« Muttersprache ist eine Informationssprache, die in der neuen »Heimat«  gesprochen wird. Die »Herkunftssprache« ist die Sprache, die im Herkunftsraum der Familie gesprochen wird. Sie ist in der neuen »Heimat« nicht Informationssprache. Die Eltern beherrschen sie mög­licherweise nur noch gebrochen, weil die Auswanderung aus dem Mutterland schon mehrere Generationen zurückliegt und die Muttersprache nicht gepflegt wird.

Sprachbaderei an der Freien Interkulturellen Waldorfschule

Schüler eines bestimmten Sprachraumes tauchen in ein Sprachbad ihrer Herkunftssprache ein, an dem auch Kinder anderer Sprachräume teilnehmen. Die gemeinsame »Sprachbaderei« in den Klassen 1 bis 3 ermöglicht während zwei Wochenstunden Begegnung und weckt gegenseitiges Interesse.

Wir nennen das Begegnungssprache. Durch sie  werden Kinder, deren Herkunftssprache zu Hause oder in der Schule nicht oder nur wenig gepflegt wird, an die ursprünglichen Elemente ihrer Mutter­sprache, an deren Sprachgenius herangeführt. Dass dies für das Ergreifen und Begreifen der Welt und das Beheimaten in ihr notwendig ist, liegt auf der Hand. Dass es aber häufig bei den Kindern, die in zweiter, dritter oder vierter Generation in einem Nicht-Muttersprachenland oder in einem neuen Mutterland aufwachsen, nicht so ist, das können wir täglich erleben. Selbst viele deutsche Kinder sprechen nur eine brüchige und wenig gestaltete Muttersprache, und das, obwohl sie in ihrem Heimatland aufwachsen. Die Auswirkung auf die Lern­biographie der Kinder ist dieselbe.

Die Frage ist, ob die »neue Muttersprache« an die Stelle der Herkunftssprache treten kann, ob sie die Entwicklung des Kindes im Begreifen der Welt und im Bilden von Begriffen ermöglicht. Entscheidend ist, in welchem Alter das lernende Kind Sprachen erfährt, die es erleben, nachahmen und erwerben kann.

Erlebt das Kind die Herkunftssprache und die Muttersprache nur gebrochen, so wird es um das zwölfte Lebensjahr Schwierigkeiten haben, lebendige Begriffe zu bilden und Gedankeninhalte zueinander in Beziehung zu setzen. Dass dies die weitere Schulzeit und das Aneignen des Lernstoffes erschwert, ist leicht nachzuvollziehen.

Wer die Sprache nur oberflächlich beherrscht, hat kaum die Möglichkeit, sich selbst in ihr zum Ausdruck zu bringen. Die Schüler suchen Alternativen der Verständigung, was im jugendlichen Miteinander auch gelingt. Aber es fällt ihnen schwer, ihr Gefühlsleben in Worte zu fassen, lebendige Gedanken zu bilden und diese auszudrücken, da ihre Sprache wenig schmiegsam ist und wenige Differenzierungen kennt.

Das Lebensgefühl eines Schülers, der sein Inneres nicht zum Ausdruck bringen kann, ist meist von Angst grundiert. Angst ist aber der schlechteste aller Lehr­meister. Es gilt ja gerade, den Kindern Möglichkeiten zu bieten, in denen sie mutig sich selbst beweisen und Selbstsicherheit gewinnen können – auch im Anwenden der Sprache.

Die Art, wie man die eigene Herkunftssprache kennenlernt, ist entscheidend für die Integration in eine kulturell heterogene Gesellschaft. Die Beschäftigung mit dieser Frage ist nicht nur eine interkulturelle Nischenbeschäftigung, sondern von herausragender gesellschaftlicher Bedeutung.

Das »Sprachbad« legt großes Gewicht auf die Begegnung mit der andersartigen Kultur, die durch die Sprache wirkt. Das erleben vor allem die deutschen Kinder, deren Muttersprache nicht als Begegnungssprache angeboten wird, aber von allen Schülern in allen Bereichen erfahren wird. Der Charme dieses Ansatzes liegt darin, dass die Sechs- bis Neunjährigen durch Lieder, Gedichte, Spiele und Erzählungen in ein »fremdes« Sprachwesen eintauchen. Mögliche Hemmungen vor dem Andersartigen kommen so gar nicht erst auf.

Mit Freude und Neugier nehmen sie an diesem Unterricht teil und identifizieren sich mit der jeweiligen Sprachgruppe, und zwar auch dann, wenn es sich gar nicht um ihre Herkunftssprache handelt. Oft entsteht für den Freund oder die Freundin eine große Achtung und Anerkennung, wenn diese in ihrer Herkunftssprache zeigen, was sie können, und erzählen, was sie vom Brauchtum der ursprünglichen familiären Herkunft kennen.

So entwickelt sich Interesse an der Welt und für den Anderen – staunendes Interesse, das sich später in Verstehen verwandeln kann.

Die Verwirklichung der Idee der Begegnungssprache steht noch am Anfang. Die Fragestellungen, die sich in Bezug auf das Erlernen und Pflegen der Herkunftssprache ergeben, sind äußerst komplex und noch wenig erforscht. Aber in der anfänglichen Verbindung und intensiven Begegnung mit einem Sprachgenius, mit der Kultur und dem Brauchtum, die sich durch ihn ausdrücken, liegt eine große Chance für die Weitung der Seele hin zur Welt des Anderen.

Von den Lehrern, die Begegnungssprachen unterrichten, wird immer wieder betont, dass der Unterricht bereits vor der ersten Klasse beginnen müsste und nicht nach der dritten Klasse aufhören dürfte. Jeder, der sich in die Idee des Sprachbades eindenkt, wird dies nachvollziehen können.

So bleibt die Aufgabe, weiter zu forschen, mutig zu experimentieren und weiter zu machen, auch oder gerade deshalb, weil die Begegnungssprache kein Prüfungsfach ist.