Kann man zum Frieden erziehen?

Andre Bartoniczek

Aus den Protesten, aus den Worten Jan Roses oder den Liedern eines Leonard Cohen, einer Joan Baez und vieler anderer spricht eine unendliche Sehnsucht nach einem liebevollen Miteinander der Menschen auf dem ganzen Planeten, nach einer Welt, die sich als Einheit wahrnimmt und verantwortlich gestalten lässt. Aus dieser Sehnsucht ist die Friedensbewegung erwachsen, von der die große Hoffnung einer Veränderung des gesamten gesellschaftlichen und politischen Lebens ausging.

Wie kommt es dann aber, dass trotzdem 1983 Atomraketen in Deutschland stationiert wurden, die Kriege nicht weniger wurden und dieselben Pazifisten, die 1967/68 auf die Straße gingen, im Kosovo-Krieg 1999 plötzlich den Einsatz deutscher Bomber forderten und 2003 zunächst die USA darin unterstützen wollten, gegen den Irak zu ziehen?

Friede ist kein Zustand

Die Geschichte des 20. Jahrhunderts ist ein einziger Ruf an den Menschen, sich seiner tiefsten ethischen Antriebe bewusst zu werden. Zugleich zeigt sich an den genannten Beispielen aber auch, dass Friede nie ein dauerhafter Zustand sein wird, den man einfach in der menschlichen Gesellschaft installieren kann. Die irdischen Verhältnisse erfordern offensichtlich immer wieder, durch Krisen, Konflikte und Leid hindurchzugehen – dadurch wird der individuelle Mensch aber dazu aufgefordert, in sich selbst die Fähigkeit zum Frieden zu finden und sie zu verwirklichen. Der Friede ist somit eine erzieherische Frage und Aufgabe. Genau deshalb provoziert die Äußerung Rudolf Steiners im ersten Vortrag der Allgemeinen Menschenkunde: »Wir können als Unterrichter und Erzieher dem Kinde gar nichts von der höheren Welt beibringen« (Vortrag vom 21.08.1919). Diese Aussage widerspricht allen gewohnten Vorstellungen von moralischer Erziehung.

Moral zeigt sich im Handeln

Wie oft werden mit Erziehung Unterweisung, Ermahnung oder Vernunftappelle verbunden und vom Geschichtsunterricht, Deutsch, Religion, aber durchaus auch von Biologie und anderen Fächern die Vermittlung ethischer Einsichten erwartet und wie stark gehören auch von Erwachsenen angeleitete Diskussionen zum Schulalltag, in denen die Schülerinnen und Schüler ihr Verhalten oder das der Mitschüler oder der ganzen Gesellschaft zwecks Veränderung reflektieren sollen! Insofern ist die Aussage eine Zumutung, dass auf diesem Wege gar nichts zu erreichen sei. Steiner macht aber darauf aufmerksam, dass das moralische Leben des Menschen nicht nur mit
rationalen, dem Tagesbewusstsein zugänglichen Gedanken-
inhalten zusammenhängt, sondern mit dem Handeln, also mit dem Willen, und der wurzelt in den unterbewussten Schichten unseres Wesens. So fährt er fort: »Denn das­jenige, was in den Menschen von der höheren Welt hineinkommt, das kommt hinein in der Zeit vom Einschlafen bis zum Aufwachen.« Friede ist keine intellektuelle Idee, sondern betrifft den ganzen Menschen – als Herzens­angelegenheit genauso wie als sozialer Handlungsimpuls. Damit sind aber genau jene Schichten des Menschen angesprochen, die nur unter Einbeziehung der nächtlichen Seite des Daseins erreichbar werden und nicht über die kognitive Einsicht. Das zeigen die historischen Beispiele: Wie groß sind oft die hehren moralischen Appelle und Absichtserklärungen, und wie anders fällt meist das Er­gebnis aus, wenn es um die Taten geht.

Geografie macht liebevoller

Die pädagogischen Konsequenzen daraus können über­raschen – z.B. wenn Rudolf Steiner die Behandlung der Niagara-Fälle anspricht: »Wir bringen den Menschen zu einer gewissen Festigung in sich gerade dadurch, dass wir recht anschaulich das Geographische beschreiben, aber diese Geographie so betreiben, dass wir immer das Bewusstsein hervorrufen, dass der Niagara nicht an der Elbe liegt, sondern dass wir immer das Bewusstsein hervorrufen: wieviel Raum liegt zwischen Elbe und Niagara. Wenn wir das wirklich anschaulich betreiben, dann stellen wir den Menschen in den Raum hinein, wir bilden insbesondere dasjenige in ihm aus, was ihm ein Weltinteresse beibringt, und das wird sich in der verschiedensten Weise in der Wirkung zeigen. Ein Mensch, mit dem wir verständig Geographie treiben, steht liebevoller seinem Nebenmenschen gegenüber als ein solcher, der nicht das Daneben-im-Raum erlernt« (Vortrag vom 14.06.1921). Nicht moralische Inhalte, sondern ein solchen Themen scheinbar völlig fernliegender Gegenstand der physischen Natur regt soziale Fähigkeiten an: Das lässt sich mit unseren gewöhnlichen Begriffen nicht verstehen, sondern nur im Hinblick auf die verborgenen seelischen Prozesse, die sich unterhalb unserer gegenständlichen Gedankeninhalte z.B. im inneren Nachklang des Unterschiedes
zwischen zwei räumlich weit auseinanderliegenden Flüssen abspielen.

Frieden braucht Empathie …

Der Verstand macht uns zum Kritiker: Indem wir bewusst über etwas reflektieren, distanzieren wir uns vom Gegenstand bzw. dem menschlichen Gegenüber – genau das braucht aber unser gewöhnliches Ich, um sich selbst wahrzunehmen und sich seiner Identität zu vergewissern. Da ist es nicht mehr weit zu der Schlussfolgerung eines der einflussreichsten Berater amerikanischer Politik: »Wir wissen, wer wir sind, wenn wir wissen, wer wir nicht sind und gegen wen wir sind« – die Konsequenz dieses Denkens liegt auf der Hand: »Für Menschen, die ihre Identität suchen, sind Feinde unabdingbar« (Samuel Huntington in seinem Weltbestseller The clash of civilizations, 1996). Kriege bzw. Gewalt überhaupt sind oft Ausdruck einer tiefliegenden Angst, einer Unsicherheit, ob das eigene Ich, die eigene Gemeinschaft, die eigene Nation etc. Bestand haben bzw. ob es dieses Ich überhaupt gibt. Der Machttrieb erwacht dort, wo ein Individuum sich schwach, ohnmächtig, nichtexistent fühlt und sich mit allen Mitteln seines Daseins zu vergewissern versucht. Zur liebevollen Hinwendung zum Anderen gehört hingegen immer der Moment, in dem ich mich mit ihm verbinde, in ihn eintauche und mich für einen Augenblick verliere. Darin liegt die Hürde, die den Weg zum Frieden so anspruchsvoll macht: Er macht nötig, dass wir unser Ego loslassen und empathisch eins werden können mit dem Gegenüber.

… und Gefühlskultur

Diese Verbindung mit dem Anderen geschieht spontan im Fühlen. Da treten wir aus der Distanz heraus und nehmen den Gegenüber in uns hinein. Insofern besteht eine erste maßgebliche Brücke vom distanzierenden Verstand zur empathischen Verbindung und schließlich zur sozialen, liebevollen Tat in einer pädagogischen Kultivierung des Gefühlslebens. Die künstlerische Betätigung ist auch in dieser Hinsicht für die Schülerinnen und Schüler kein luxuriöser Zusatz zu den »wirklich wichtigen« Prüfungsfächern, sondern die Grundlegung der Fähigkeit, sich zu verbinden und damit auch zu verstehen.

Hier erlangt die Erzählung gegenüber der Information Bedeutung: Wenn ich eine Rosa Luxemburg nicht nur als Datum der Geschichte genannt bekomme, sondern sie in ihrer Kindheit verfolge, wie sie über ein Jahr ans Bett gefesselt ist und alle Bewegungen, die sie nicht ausführen kann, in ihre Gedanken hineingehen, wie sie sich schon als junge Schülerin für die Gerechtigkeit begeistert, später auf dem Podium steht und mit Worten für den Sozialismus kämpft, wie sie dafür ins Gefängnis geht und dort hingebungsvoll die Pflanzen im Hof pflegt und studiert, und wie sie für ihre Überzeugung schließlich in den Tod geht, dann werden meine Empfindungen so angeregt, dass in mir allmählich eine Wahrnehmung für das Geschenk der Begegnung mit dem Anderen entsteht. Dann habe ich auch keine Angst mehr, mich selbst zu verlieren, denn in dem Erleben des Gegenübers komme ich von meinen beschränkten Perspektiven und Grenzen los und werde weiter und größer statt kleiner. Es entsteht ein Vertrauen in die Stärkung des Ich durch ein Einswerden mit dem Du. Bilder reichen viel weiter in diese persönlichkeitsstärkenden Kräfte hinein als Argumente – weil sie Anschauungen geben statt Logik und zugleich in die tieferen geistigen Zusammenhänge hineinleuchten, die sich in ihren Inhalten ausdrücken, und dementsprechend nächtlich ganz anders weiterwirken.

In den unteren Klassen empfiehlt Rudolf Steiner bei sozialen Konflikten oder Fehlverhalten eine sinnige Geschichte statt einen Appell an die Vernunft. In der Oberstufe geht es dann darum, immer bewusster die eigenen Erlebnisse mit Erkenntnis zu durchdringen.

Hier bietet z.B. das Nibelungen-Epos die Chance, in den mythischen Bildern vom tödlichen Kampf der beiden Parteien bis in die entsetzliche Katastrophe hinein urbildhaft den Reflex des »Wie du mir, so ich dir«, also der unerbittlichen Spirale von Gewalt und Gegengewalt wahrzunehmen und dann am nächsten Tag, nachdem diese Bilder in der Nacht fortgewirkt haben, anhand der von Friedrich Glasl beschriebenen Konflikt-Eskalationsstufen die Mechanismen zu erfassen, die Gewalt und Krieg zugrunde liegen.

Durch den regelmäßigen Pendelschlag von in die Nacht mitgenommenen, das Unterbewusstsein erreichenden Bildern und verstehender Reflexion werden die friedens­pädagogischen Inhalte nicht sentimental (kaum etwas stößt einen jungen Menschen mehr ab als Phrasen) und die Biographien Martin Luther Kings, Gandhis, Mandelas etc. nicht zu zeigefingerhaften Lehrbeispielen für den guten Menschen. Vielmehr wird im aktiven Mitvollzug solcher um Veränderung ringenden Schicksale allmählich eine innere moralische Instanz geweckt, die im entscheidenden Moment die Kraft aufbringt, nicht reflexhaft zurückzuschlagen, zu verletzen usw., sondern zu sich zu kommen und einen empathischen Schritt auf den Anderen zuzumachen. Der Friedensprozess von Oslo 1993, der beinahe eine Befriedung des Palästinakonflikts herbeigeführt hätte, ist zwar am Ende durch ein Attentat an Jitzchak Rabin doch gescheitert, trotzdem kann eine Vertiefung in die durch norwegische Sozialwissenschaftler angestoßene, von mutigen jüdischen und palästinensischen Verantwortlichen schwer errungene Verständigung zwischen den im heillosen Kampf erstarrten Parteien ein Organ für die innere Haltung und auch das praktische Können anregen, ohne die Frieden nicht möglich ist.

Lernen, zuhörend innezuhalten

Wenn zugleich die Schüler die Gelegenheit erhalten, im Rahmen eines Sozial­praktikums z.B. einen ehemaligen Gefängnisinsassen bei seiner Wiedereingliederung in das Leben zu begleiten, in schweren Mobbingsituationen in der Klasse zu echten Konfliktlösungen angeregt zu werden oder sich in der Inszenierung eines Theaterstückes die Rollen zweier Todfeinde zu eigen zu machen, dann vertieft sich das moralische Üben bis ins äußere Tun hinein. Vielleicht erst viel später tritt dann solch ein Moment ein, in dem sie in einer Auseinandersetzung zuhörend innehalten, eine unvermutete Lösung finden und beide Seiten aus dem Konflikt befreien – »damit es anders anfängt / zwischen uns allen« (Hilde Domin, Abel steh auf).

Zum Autor: Andre Bartoniczek ist Oberstufenlehrer für Deutsch und Geschichte an der Waldorfschule Heidelberg und Dozent im Fernstudium für Waldorfpädagogik in Jena. Außerdem arbeitet er an einem historischen Forschungsprojekt zur ostdeutschen Bürgerrechtsbewegung 1989 und zur deutschen Geschichte der nachfolgenden Jahrzehnte.