Historisch

Friedrich Eymann. Ein Schweizer Kämpfer für die Pädagogik des freien Menschen

Nana Göbel

Steiner sagte in Bern: »Aber da die anthroposophische pädagogische Kunst zunächst ein Methodisch-Didaktisches sein soll, also das Wie des Unterrichts betont, so handelt es sich darum, dass sie überall hin, also in jede Art von Schule, in jede Art des Unterrichts durch den einzelnen Lehrer gebracht werden kann.« Während er diese Worte sprach, so berichtete Friedrich Eymann, habe er ihn entschieden und längere Zeit angeschaut. Einige Monate zuvor, im Dezember 1923, äußerte Steiner Ähnliches während einer Schweizer Lehrerversammlung. Dort soll er gesagt haben: »Es hat uns viel geschadet, dass immer wieder und wieder betont wurde, Waldorfpädagogik kann nur in abgesonderten Schulen erreicht werden, während ich immer wieder gesagt habe: das Methodische kann in jede Art von Schule hineingebracht werden.«

Diese Auffassung entsprach ganz dem Anliegen Friedrich Eymanns. 1924 wurde er als Religionslehrer an das staatliche Lehrerseminar in Bern und vier Jahre später auf den neu errichteten Lehrstuhl für Ethik an der Theologischen Fakultät der Universität Bern berufen. Er vertrat dort eine Pädagogik im Geiste Pestalozzis und Steiners, griff die methodischen Impulse der Waldorfpädagogik auf und studierte deren menschenkundliche Grundlagen. Das floss in seine Lehrtätigkeit an der Universität ein. Max Widmer, einer seiner Studenten, schilderte einmal Folgendes: »Unvergeßlich blieb seinen Schülern das Bild des Lehrers, das er ihnen zeichnete: Im Bewusstsein seiner großen Verantwortung den Kindern gegenüber arbeitete er unablässig an sich selbst, um den Ansprüchen, die sich aus der Kindesnatur und aus den mancherlei Umwelteinflüssen ergeben, immer besser gerecht werden zu können. Nie erliegt er der Gefahr, als bloßer Beamter Vorschriften zu erfüllen. Er handelt aus eigener Einsicht und schult sich so, dass er bis in Einzelheiten der Erziehung und des Unterrichtes hinein an den Kindern ablesen kann, was zu tun und zu lassen ist. Den Unterrichtsstoff erarbeitet er sich, bis er souverän darüber verfügt und ihn lebendig zu gestalten vermag. Die Art der Gestaltung aber passt er immer der Entwicklungsstufe des Kindes an. Das ist eine Kunst, die gelernt, geübt und gesteigert werden kann. Darum ist auch für den Lehrer selbst des Lernens kein Ende.« Friedrich Eymann begeisterte seine Studenten für die anthroposophische Pädagogik. Im Emmental, im Haslital, in weiteren Schweizer Alpentälern, in Mittelland, Seeland und Oberaargau – vor allem auf dem Land und weniger in den Städten – begannen junge Lehrer die Erkenntnisse der anthroposophischen Pädagogik in ihrer Lehrertätigkeit zu beherzigen und zu steigern. Max Leist (1906–1957), einer der begabtesten Pädagogikstudenten Eymanns, wirkte als Pionier dieser Tätigkeit. Der von Eymann ausgehende pädagogische Impuls erhielt durch die praktische pädagogische Tätigkeit Leists konkreten Rückhalt, dessen Pionierarbeit, die 1926 in Horben einsetzte, viele Lehrer begeisterte. 1936 veröffentlichte Eymann gemeinsam mit Leist Aufsätze über Anthroposophische Pädagogik in der Staatsschule. Diese Publikationen zogen harte Konsequenzen nach sich. Auf Drängen der Evangelischen Landeskirche und einiger politischer Parteien sowie auf Antrag der Seminarkommission wurde Eymanns Lehrauftrag vom Bernischen Regierungsrat nicht erneuert. Die Vorwürfe gegen ihn lauteten u.a.: Unkollegialität, Beeinflussung der Schüler im Sinne anthroposophischen Gedankenguts, was zu »Unordnung und Wirrwarr« in den Schulstuben geführt habe. Weder politische Interventionen im Bernischen Großen Rat noch der Einsatz seiner Schüler für die Rehabilitierung hatten Erfolg. 1939 wurde er seines Amtes enthoben. Diese Situation und der Ausbruch des Zweiten Weltkriegs verstärkten das Bestreben vieler junger Pädagogen, sich nun erst recht für die Pädagogik des freien Menschen einzusetzen. Und so erfolgte 1942 die Gründung der Freien Pädagogischen Vereinigung durch Friedrich Eymann, Max Leist, Ernst Bühler und viele andere – insgesamt 41 Lehrerinnen und Lehrer. Sie wurde als ein »Schutz- und Trutzbündnis« für die Freiheit errichtet. In ihr arbeiteten Pädagogen zusammen, die im Rahmen der kantonalen Staatsschulen auf der Grundlage der Waldorfpädagogik tätig waren. Sie traten dafür ein, dass Lehrer unabhängig von ihrer Anstellung beim Staat in ihrem pädagogischen Wirken frei und selbstverantwortlich handeln dürfen. Die heute noch bestehende und an die 700 Mitglieder zählende Freie Pädagogische Vereinigung (FPV) in Bern setzte sich zum Ziel, die von Pestalozzi geforderte und von Rudolf Steiner begründete Erziehungsweise zu fördern und auszubauen. Die FPV und viele regionale Arbeitsgruppen dienten manchen Lehrern als Ersatz für die kollegiale Zusammenarbeit, die es an den staatlichen Schulen so nicht gab, denn die Lehrer waren in der Regel Einzelkämpfer. Sie suchten nach Erfahrungsaustausch und fanden diesen in diesen Versammlungen. Sie besuchten sich gegenseitig im Unterricht, was gründlich nachbesprochen wurde. Jedenfalls konnte die Unterrichtsqualität – und das war ja das hauptsächliche Anliegen – durch diese gegenseitige Unterstützung deutlich verbessert werden, was selbst in den Elternhäusern bemerkt wurde. Wenn dann die auf der Grundlage der Waldorfpädagogik arbeitenden Lehrer von kirchlicher Seite oder durch Schulinspektoren angegriffen wurden, stellten sich die Eltern hinter die Lehrer. »Und weil nach Bernischer Schulgesetzgebung nicht der Staat, sondern das Volk den Lehrer wählt und wiederwählt, wurden entstandene Konflikte fast immer zugunsten des Lehrers entschieden.« Im Frühjahr 1945 begann Hans Jaggi eine kleine heilpädagogische Schule im Berner Länggass-Quartier mit sieben Kindern. Und schon im Verlauf des ersten Schuljahres entstand aus diesem Keim der Wunsch der Eltern nach einer Schule für ihre anderen Kinder: die Rudolf Steiner Schule in Bern eröffnete im Frühjahr 1946 als vierte Waldorfschule in der Schweiz mit 21 Schülern in einem Pfadfinderheim, nachdem im Februar 1946 die staatliche Bewilligung eingetroffen war. Zu den Initianten und treibenden Kräften der Schule gehörten einige der Schüler Eymanns. Eymann selbst unterstützte die wachsende Schule mit Rat und Tat. Nach dessen Tod durchlief die Schule eine mühsame Phase gegenseitigen Unverständnisses, in der aber eine gewisse Aussöhnung mit den Lehrern der Freien Pädagogischen Vereinigung gelang.

Neben seinen großen Verdiensten für die Entwicklung der Waldorfpädagogik in der Schweiz, darf Eymanns Engagement mit der Gründung seines Troxler Verlages und der Herausgabe des Werkes von Ignaz Paul Vital Troxler (1780–1866) nicht unerwähnt bleiben. Der von Eymann wiederentdeckte Schweizer Philosoph kann in zweifacher Weise als ein Vorbereiter der Waldorfpädagogik gesehen werden. Er kämpfte einerseits für ein vom Staat unabhängiges Bildungswesen, weshalb sich zivilgesellschaftliche Gruppen bis heute auf ihn beziehen, andererseits legte er philosophische Grundlagen, die wie eine Vorstufe der anthroposophischen Pädagogik erscheinen. Troxler bezeichnete seine »Philosophie der objektivierten Anthropologie« auch als »Anthroposophie«. Eymann stellte eine Brücke zwischen dem Anthroposophie-Begriff Troxlers und Steiners her.

Literatur: Nana Göbel: Die Waldorfschule und ihre Menschen. Weltweit. Geschichte und Geschichten. 1919 bis 2019 (3 Bände), Verlag Freies Geistesleben, Stuttgart 2019