Frischer Wind aus Nord-Ost

Renata Bühring

Janine schreibt mit einem Wachsstift Sätze von der Tafel in Großbuchstaben ab, während ihre Nachbarin den gleichen Text mit einem dicken Buntstift in Schreibschrift umwandelt. In der Klasse von zwölf Kindern herrscht Arbeitsatmosphäre. Die Klassenlehrerin sitzt mit einem Kind an einem Tisch im hinteren Teil des Klassenraumes und unterstützt es bei Leseübungen. Paul schreibt schnell und ist mit seinen Sätzen schon fertig. Still steht er auf und holt sich von einer Ablage ein Lesebuch. Janine und Paul lernen in einer kleinen Klasse. Nicht weil sie besonders gefördert werden müssen, sondern weil sie in Seewalde in der Mecklenburgischen Seenplatte leben – einer ebenso schönen wie gering bevölkerten Region. Noch vor drei Jahren war offen, ob sie eine Waldorfschule besuchen könnten, denn die nächstliegenden im Umkreis sind zwei Stunden Autofahrt entfernt. Waldorfpädagogik in Dorfschulform für diese Kinder umzusetzen ermöglichte also einen anderen Versuch entwicklungsgerechter Ansprache als im jahrgangshomogenen Ansatz großer Schulen.

An Waldorfschulen ist der konzeptionell bewusst gestaltete jahrgangsübergreifende Unterricht ein relativ neues Phänomen. In der Aufbauphase wurden auch früher an Waldorfschulen zwei Jahrgänge als Übergangslösung zusammengefasst, die aber, wenn sich eine Jahrgangsklasse gefüllt hatte, schnell aufgegeben wurde. Ähnliches gilt auch für Schulen mit rückläufigen Schülerzahlen. Die Waldorfschulen, die in Deutschland durchgehend bis zur Oberstufe jahrgangsübergreifend unterrichten, sind bis auf eine Schule nicht mehr als zehn Jahre alt. Nach der Aufarbeitung der Erfahrungen aus anderen Schulen und nach den ersten Erfahrungen in Seewalde wurde deutlich, dass es für die entwicklungsgerechte Erziehung der Schüler nicht reicht, einfach zwei Jahrgangsstufen in einem Klassenraum zu unterrichten. Es ist ein für alle Klassen übergreifendes »Gesamtschulkonzept« nötig, das die Bedürfnisse der Kinder aller Jahrgangsstufen berücksichtigt.

Erstes Schuljahr – Beginn selbstständigen Arbeitens

2011 nahm die Waldorfschule Seewalde mit einer ersten Jahrgangsstufe den Betrieb auf. Jedes Jahr kam eine neue Jahrgangsstufe dazu. Vorgesehen ist, dass jeder Klassenlehrer zwei Jahrgangsstufen in seiner Klasse unterrichtet, die gemeinsam, voneinander oder auch jahrgangshomogen lernen. Damit haben wir uns nach Erwägung anderer Modelle der Jahrgangsmischung für das Klassenlehrerprinzip entschlossen.

Im Vordergrund der Überlegungen standen die Vorbereitung der Erstklässler auf die selbstständige Arbeit und die Aufnahme der kommenden ersten Klasse.

Ab der zweiten Schuljahreshälfte bekamen die Erstklässler immer wieder Aufgaben, die sie selbstständig bearbeiten sollten. Es begann mit Sequenzen von einigen Minuten, in denen die Schüler zum Beispiel gemeinsam Formen aus Bauklötzen oder anderen Materialien auf den Boden legten. Eine große dreiteilige Glastür im Klassenraum ermöglicht es der Klassenlehrerin hinauszugehen, ohne die Übersicht über das Geschehen in der Klasse zu verlieren. Nach und nach erstreckten sich während der zweiten Schuljahreshälfte die Arbeitsphasen, in denen die Schüler ohne Lehrerin gearbeitet haben, auf bis zu zwanzig Minuten. Wenn sie danach in den Klassenraum kam, wurde sie zunächst gar nicht beachtet, erst nach einer Weile sagten die Kinder: »So Frau D., jetzt sind wir fertig, jetzt kannst du es dir anschauen.« Diese und ähnliche Situationen zeigen, dass die Kinder gut auf die selbstständige Arbeit im zweiten Schuljahr vorbereitet sind. Die Kinder der ersten Jahrgangsstufe wussten von Anfang an, dass sie dieses Schuljahr als »halbe Klasse« verbringen und erst im nächsten Schuljahr »ganze Klasse« werden. Vor allem ab der Mitte der zweiten Schuljahreshälfte wurde mit den Kindern thematisiert, dass nach den Sommerferien der neue Jahrgang in die Klasse kommt, und es wurde mit ihnen ein kleines Theaterstück als Begrüßung der neuen Schüler bei der Einschulungsfeier eingeübt. Da die Erstklässler im ersten Schuljahr zu viert waren, freuten sie sich sehr auf die neuen Mitschüler und Freunde.

Zweites Schuljahr – Binnendifferenzierung

Im zweiten Schuljahr führte die Gründungslehrerin eine Doppelklasse, in der alle Schüler alle Epochen und Fächer gemeinsam hatten, aber nach Jahrgangsstufen oder Leistung binnendifferenziert. Bei der Einführung der Buchstaben in der ersten Jahrgangsstufe schrieben die Zweitklässler ihre Übungen zu den gleichen Buchstaben in Schreibschrift und in den stillen Phasen der ersten Jahrgangsstufe wandte sich die Lehrerin den Zweitklässlern zu, um zum Beispiel einen neuen Kleinbuchstaben einzuführen. Im Formenzeichnen wurden für die Erstklässler Formen ausgesucht, die zugleich die anstehenden Symmetrieübungen für die Zweitklässler ermöglichten. Im Rechnen wurden die Zahlen ähnlich wie die Buchstaben beim Schreiben eingeführt und später wurde altersgemischt in zwei oder in drei Leistungsgruppen gearbeitet. – Während mancher Zweitklässler noch den Zahlenraum bis 20 vertiefen konnte, musste sich ein schneller Erstklässler nicht langweilen und konnte sich der Gruppe der Zweitklässler anschließen, und mancher Zweitklässler konnte still an Sonderaufgaben knacken, ohne dass es als etwas Besonderes auffiel.

Neben den neuen Erstklässlern kamen in diesem Schuljahr auch Quereinsteiger in die zweite Jahrgangsstufe, so dass die Doppelklasse in diesem Schuljahr zwölf Kinder umfasste. Damit bei den Erstklässlern eine tragende Beziehung zur Klassenlehrerin entstehen konnte, arbeiteten sie in der ersten Schuljahreshälfte nur in den sogenannten stillen Phasen alleine, die eigentliche selbstständige Arbeit fing erst in der zweiten Schuljahreshälfte an und entwickelte sich, auch durch das Vorbild der Zweitklässler, sehr gut. Bei den Zweitklässlern zeigten sich am Anfang des Schuljahres zuerst Rückschritte in der selbstständigen Arbeit. Dinge, die im letzten Schuljahr gar kein Thema mehr waren, wurden wieder gefragt, zum Beispiel: »Welchen Stift soll ich nehmen?« Diese Unsicherheit kam teils von den Quereinsteigern, die die Vorbereitung auf die selbstständige Arbeit nicht erlebt hatten.

Und zusätzlich entstand für die Zweitklässler eine neue Situation – die Lehrerin war im Raum, aber nicht für sie ansprechbar, weil sie sich mit der anderen Gruppe der Kinder beschäftigte. Daran mussten sich die Zweitklässler erst gewöhnen. Diese Schwierigkeiten der Anfangszeit konnten durch klare Regeln (zum Beispiel, wie gehe ich vor, wenn ich eine Frage habe), gute Strukturierung des Unterrichts und durch aufmerksame Begleitung seitens der Klassenlehrerin überwunden werden, so dass in der zweiten Schuljahreshälfte selbstständiges Arbeiten wieder möglich war.

Drittes Schuljahr – mal gemeinsam, mal für sich

Im aktuellen dritten Jahr übernahm eine zweite Klassenlehrerin die neue erste Jahrgangsstufe, und die Gründungslehrerin führt nun die 2./3. Klasse. Manche Teile des Unterrichts wurden für alle drei Jahrgangsstufen gemeinsam geplant, damit die Kinder die ganze Schule – die in diesem Schuljahr um die achtzehn Schüler besuchen – als Gemeinschaft erleben und auch in einer größeren Gruppe lernen können. So trifft sich jeden Morgen die ganze Schule zum Morgenkreis und der rhythmische Teil wird immer wieder für alle drei Jahrgangsstufen von beiden Klassenlehrerinnen gemeinsam gestaltet. In diesem Rahmen wurden ein Martinsspiel und ein kleines Christgeburtspiel eingeübt und mit positiver Resonanz in der Region vorgeführt. Darüber hinaus gibt es in Seewalde freitags einen »Schultag«, an dem die Fachunterrichte für alle Jahrgangsstufen gemeinsam sind.

Um den entwicklungsspezifischen Unterricht in dieser Doppelklasse zu ermög­lichen, werden in dieser Jahrgangsstufenkombination nicht mehr alle Epochen für alle gemeinsam unterrichtet. Bei den Geschichten aus dem Alten Testament und zur Ackerbau-Epoche sollen die Drittklässler unter sich sein. Hier waren die Zweitklässler zum Hauptunterricht bei der ersten Jahrgangsstufe, die ihnen schon aus den regelmäßigen gemeinsamen Unterrichtseinheiten vertraut war. Die Handwerker-Epoche wurde auf das Ende des Schuljahres gelegt und für beide Jahrgangsstufen gemeinsam geplant. – In diesem Sinne wird also ein klassenübergreifendes Konzept für die ganze Schule entwickelt.

Am Ende jedes Schultages sitzen Janine aus der zweiten Jahrgangsstufe mit ihrer Freundin aus der dritten Jahrgangsstufe, und alle anderen Kinder dieser Doppelklasse gemeinsam in einem Stuhlkreis im hinteren Teil des Klassenraumes und lauschen den Geschichten der Klassenlehrerin.

Sie wählt die passenden Geschichten aus dem Repertoire des Erzählstoffes beider Jahrgangsstufen nach den Bedürfnissen und Wünschen der Kinder aus. »Wenn man sich wirklich die Kinder ansieht und sieht, was gerade lebt und was sie anspricht, dann ist der Erzählteil etwas, was mir keine einzige schlaflose Nacht bereitet«, erzählt sie.

Wenn auch nicht jahrgangshomogen, lernen Janine und ihre Freunde aus der Region ausgesprochen entwicklungsgerecht in einer Doppelklasse. Es ist ein kleiner Anfang einer kleinen Schule, für Kinder in dieser dünn besiedelten Region, die diese Pädagogik suchen.

Zur Autorin: Renata Bühring ist Gründungsmitglied der Waldorfschule Seewalde, Musiklehrerin und Musiktherapeutin. 2013 verfasste sie am Zentrum für Kultur und Pädagogik, Wien/Donau-Universität, Krems ihre Masterarbeit: »Jahrgangsübergreifender Unterricht. Theoretische Grundlagen – Modelle in der Praxis – Beispiel einer Waldorfschule«.Abweichend von einer bald hundertjährigen Tradition zeigt die Waldorfschule Seewalde, dass jahrgangsübergreifender Unterricht keine Notlösung ist, sondern eine sach- und lebensgemäße Antwort auf die Frage zwar weniger, aber konkreter Kinder nach dieser Pädagogik. Das gilt besonders für den ländlichen Raum.