Am Anfang steht das Missverständnis
Was Eltern und Erziehende dazu beitragen können, damit Kinder ein altersgemäßes Verhältnis zur Sexualität entwickeln können, zeigt Elke Rüpke, Dozentin am Waldorferzieherseminar, in diesem Beitrag. Dazu gehören nicht nur schöne und ehrliche Begriffe, das Überprüfen der eigenen Haltung und das Zulassen von Doktorspielen, sondern auch Erzählungen, die dem Kind seine Fragen in Bildern verständlich werden lassen.
Man könnte meinen, dass sich Eltern und Erzieher von Kindergartenkindern mit dem Thema »Sexualität« noch nicht beschäftigen müssen. Ist das nicht ein Thema, das noch gar nicht in dieses Alter gehört?
Tatsächlich: Die eigentliche Sexualität, die ausgereifte Sexualorgane voraussetzt, die mit entschieden sexuellen Bedürfnissen und der Suche nach einem Geschlechtspartner einhergeht, zeigt sich biologisch und seelisch-geistig erst vom Jugendalter an. Erst durch die Pubertät entstehen die körperlichen und psychischen Voraussetzungen für diesen Entwicklungsschritt auf dem Weg zum Erwachsenwerden. Und dennoch taucht die eigenständige Beschäftigung von Kindern mit Fragen, Untersuchungen und Spielen zur Geschlechtlichkeit schon in den ersten Lebensjahren immer mal wieder auf –, in der Familie wie auch im Kindergarten. Kennenzulernen, wie der eigene Körper aussieht und sich anfühlt, die Unterschiedlichkeit der Geschlechter wahrzunehmen und genauer zu erkunden oder auch zu verstehen, wie ein Baby auf die Welt kommt, all das sind spannende Fragen für ein Kind.
Was können Eltern und andere Erziehende dazu beitragen, dass ihr Kind ein die Persönlichkeit stärkendes und altersgemäßes Verhältnis zu Fragen der Sexualität entwickelt? Zunächst ist es wichtig, die eigene Haltung zu diesem Thema zu reflektieren. Entspannt und amüsiert sind wir als Erwachsene noch beim Nachsinnen des Kindes über die eigene Geschlechtsidentität: »Ich bin ein Mädchen, weil ich Zöpfe habe und weil ich rosa Haarspangen mag, der Lukas mag lieber orangene, der ist ein Junge!« Weniger entspannt dagegen betrachten wir dann meist den kindlichen Forscherdrang, wenn bei Doktorspielen von Kindern untereinander zum Beispiel die Geschlechtsorgane in Augenschein genommen und betastet werden. Häufig setzt sich unser ungutes Gefühl gegenüber diesen Kinderspielen zusammen aus einer Mischung von Einflüssen, deren wir uns nicht immer bewusst sind: vielleicht ein Schamgefühl als Relikt der eigenen Erziehung (»Das tut man nicht!«), Unsicherheit aufgrund mangelnden Wissens über das, was normal ist in der kindlichen Entwicklung, oder eine generelle Angst vor sexuellen Übergriffen auf das Kind, geweckt durch die endlich erfolgende Aufarbeitung der Fälle sexueller Gewalt an Kindern.
Doktorspiele und ihre Grenzen
All das hat im Allgemeinen mit der Situation aus der Sicht des Kindes nicht unbedingt etwas zu tun. Es möchte sehr wahrscheinlich einfach nur etwas über Körperteile wissen und kennenlernen, was ihm sonst verborgen bleibt. Erst wenn ich mir die Herkunft meiner negativen Gefühle in dieser Situation bewusst mache, kann sich der unbefangene Blick auf das einstellen, was beim Kind tatsächlich zu bemerken ist, und ich muss in vielen Fällen gar nicht eingreifen. Bei aller Gelassenheit aber sollte der Erwachsene, besonders in der Gruppe, die Situation bei Doktorspielen der Kinder im Auge behalten, denn manchmal kommt es vor, dass stärkere oder ältere Kinder kleinere durch Überreden, Locken oder Zwang dazu bringen, sich ihnen nackt zu zeigen oder ähnliches, um ihren Wissensdrang zu stillen. Hier ist die Gefahr von Übergriffen gegeben, da das Kleinere sich meist noch nicht wehren kann, wenn die Grenzen seiner Spielbereitschaft überschritten werden. Dann braucht es den Schutz des Erwachsenen. Hilfreich ist in diesem Fall die Regel, dass solche Art von Spielen nur unter Kindern stattfinden dürfen, die gleich alt und stark sind. Wie bei »Spaßkämpfen« gilt darüberhinaus: Wer nicht mehr mitmachen will, soll jederzeit aufhören dürfen. Und je besser Kinder in verschiedenen Situationen gelernt haben, dass sie auch »nein« sagen dürfen und nicht alles machen müssen, was ein Anderer von ihnen verlangt, umso besser können sie sich mit zunehmendem Alter gegen Übergriffe zur Wehr setzen.
Fragen und ehrliche Antworten
Die Fragen nach dem körperlichen Geschlecht und seinen Organen sind beim kleinen Kind eingebunden in die Körpererfahrung und das Gesamtwissen über den eigenen Körper und den der Menschen in der direkten Umgebung. Vielleicht hat es bemerkt, dass das Geschwisterchen oder die Eltern nackt anders aussehen, als es selbst. Oder es weiß schon, dass die Babys im Bauch der Mutter heranwachsen und möchte wissen, ob sie durch den Bauchnabel herauskommen.
Je unbefangener das Kind seine Fragen stellen kann und ehrliche, seinem Verständnis angepasste Antworten bekommt, umso weniger erlebt es ein Tabu und muss seine Wissbegier auf heimlichen Wegen stillen. Darüber hinaus ermöglicht eine offene Haltung des Erwachsenen, dass dieser Bereich zwischen dem Kind und seinen Eltern oder Erziehern besprechbar ist. Das ist eine gute Prophylaxe für mögliche spätere Erfahrungen des Kindes mit Übergriffen verschiedener, womöglich auch sexueller Art. Denn in solchen Fällen wird sich das Kind hilfesuchend nur an die Menschen wenden, von denen es aufgrund vorheriger Erfahrungen mit »schwierigen Fragen« weiterhin ein offenes Ohr erhofft.
Meiner Erfahrung nach kann das Ernstnehmen der Fragen der Kinder und die Bemühung um zutreffende Antworten, die aber, angepasst an das Verständnis des Kindes, eher bildhaft-poetisch als naturwissenschaftlich genau sein sollten, zu wunderbaren Momenten des gemeinsamen Staunens darüber führen, wie gut, sinnvoll und weise im Körperlichen alles eingerichtet ist. Dazu gehört auch, dass alle Körperteile einen Namen haben und möglichst ohne Peinlichkeit benannt werden können. Das kann ein Kind nur, wenn wir als Erwachsene mit gutem Beispiel vorangehen. Wenn Kinder wissen, dass sie alles fragen dürfen, können sie selbst den Zeitpunkt wählen, der ihrem Verständnis angemessen ist, um ihr Wissen darüber, wie die Babys auf die Welt kommen, voranzubringen.
Ich habe es vielfach so erlebt, dass ihnen dabei der seelisch-geistige Anteil der Inkarnation, dass die Kinder aus dem Himmel kommen, sehr leicht verständlich und ganz vertraut ist, während ihnen der körperliche Anteil, von der Zeugung bis zur Geburt, erst viel später zur Frage wird. Ein umfängliches Verständnis des großen Zusammenhangs der Menschwerdung im Körperlichen, Seelischen und Geistigen kann sich erst nach und nach im Verlauf von Jahren im Kind aufbauen.
Poetische und dadurch wahrhaftige Erzählungen
Eine Erfahrung dabei ist, dass es für Kinder schöner und ihrem Verständnis angemessener ist, wenn von den erfragten körperlichen Vorgängen (zum Beispiel, wie das Baby denn in den Bauch kommt), eher beschreibend erzählt wird, so dass sie sich ihre eigenen Vorstellungen machen können. An ihren Kommentaren und Fragen bemerkt man, wo die Erzählung vielleicht noch etwas unverständlich oder unpassend war. Zeigt man ihnen dagegen naturalistische Zeichnungen oder Fotos, so wirken diese oft abstoßend auf die Kinder und können sich als visueller Eindruck sehr störend einprägen, denn anders als beschreibende Worte sind sie unveränderlich.
Weil das Kind in diesem Alter die für den Jugendlichen oder Erwachsenen mit dem Geschlechtsverkehr verbundenen Bedürfnisse und positiven Gefühle aus eigenem Empfinden noch nicht nachvollziehen kann, muss ihm die Vorstellung davon zunächst merkwürdig vorkommen, und es ist auf Verständnisbrücken aus seinem eigenen Erfahrungs- und Wissensschatz angewiesen.
Hat es dann Antworten auf seine Fragen bekommen, kann es sich in seinem Bedürfnis, die Welt zu verstehen, beruhigt wieder anderen Erfahrungsbereichen zuwenden.
Zur Autorin: Elke Rüpke ist Dozentin am Waldorferzieherseminar in Stuttgart. Siehe auch Beitrag in Heft 4/2014.
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