Das Spiel der kleinen Kinder

Von Susanne Krafft, Februar 2013

»Die Spiele der Kinder sind, ungleich den unsrigen, nichts als die Äußerung ernster Tätigkeiten, aber in leichtesten Flügelkleidern.« Nehmen wir ernst, was Jean Paul unter Spiel versteht? Die Waldorferzieherin Susanne Krafft beobachtet das kindliche Spiel in der Kinderstube des Bildungshauses der Freien Waldorfschule Kassel.

© Charlotte Fischer

Lehrmeister Schwerkraft

Wenn die Kinder nach ihrem ersten Geburtstag in die Kinderstube kommen, befinden sie sich mit ihrer Bewegungsentwicklung in unterschiedlichen Stadien. Oftmals können sie noch nicht laufen, ziehen sich aber schon an Gegenständen hoch, können eigenständig sitzen und nutzen zur Fortbewegung das Krabbeln. Es kommt auch vor, dass Kinder in diesem Alter schon laufen, aber kaum krabbeln. Allen gemeinsam ist jedoch, dass sie die schon erlangte Fähigkeit unermüdlich üben und ausüben.

Man kann diese Tätigkeit als Spiel mit der Schwerkraft bezeichnen. Das beginnt schon weit vor der Kinderstubenzeit mit dem Heben des Köpfchens, dem ersten Umdrehen und all den kleinen Entwicklungsschritten, die dann im freien Stand des Kindes gipfeln. Wer dies aufmerksam beobachtet, ist nicht nur von der Beharrlichkeit des Übens, sondern vor allem von der Weisheit fasziniert, die in der Entwicklungsabfolge erkennbar wird, und immer auf die Individualität des Kindes abgestimmt ist. Kein direktes Eingreifen des Erwachsenen ist hier notwendig, kein Forcieren und kein Fördern.

Ganz im Gegenteil: Wer das Bewegungsspiel stört, behindert den individuellen Impuls des Kindes. Für das eine Kind mag es richtig sein, mit einem Jahr zu laufen, für das andere wird es ein halbes Jahr später genau richtig sein. Wesentlich ist, dass nicht der Wille des Erwachsenen die treibende Kraft ist, sondern dass das Kind aus eigenem Impuls heraus seine Entwicklungsschritte vollziehen kann.

Spracherwerb im Wechselspiel

Ist der freie Stand errungen, setzt meist verstärkt das Spiel mit der Sprache ein. Aus Lautspielen entwickeln sich allmählich erste Worte. Diese Worte sind anfangs teilweise schwer verständlich. Wir erkennen sie, da sie entweder dem Erwachsenen direkt nachgesprochen werden oder in einem Sinnzusammenhang stehen.

Hierzu zwei Beispiele: Die erste Begebenheit ereignet sich während der Pflege. Hier herrscht ein vertrautes Miteinander. Die Bezugsperson reicht dem Kind die Hose und spricht es an – und so streckt es ihr eines seiner Beinchen entgegen. Der Erwachsene kommentiert das Entgegenkommen des Kindes: »Ach, reichst du mir dein Bein?« Das Kind wiederholt: »Bein«. Der Erwachsene erkennt, was das Kind sagt, und wiederholt freudig: »Ja, dein Bein«. Wieder sagt das Kind »Bein« und es hat sichtbare Freude daran, dass der Erwachsene das Wort erkennt. Diese Wortspielerei kann sich noch einige Male wiederholen. Im nächsten Schritt können wir erleben, wie das Kind den Gedankenzusammenhang bereits herstellt und ohne Zutun des Erwachsenen das Beinchen reicht und »Bein« dazu sagt.

Neben der intimen Situation der Pflege ist auch die Mahlzeit geeignet, solche sprachlichen Entdeckungen zu machen. Wir erleben öfter, dass das Kind während des Essens nicht mehr nur auf die Schüssel zeigt, sondern dazu »mehr« sagt, da vorher die Geste des Zeigens von den Erwachsenen mit den Worten »Ja, du möchtest noch mehr haben« begleitet wurde. Die Sprache wird zum Ausdrucksmittel für Beziehungen zwischen Menschen und für Erlebtes. Es entstehen gedankliche Verknüpfungen – das Kind be-greift, wo es vorher ge-griffen hat.

Wenn sich der Stock in einen Suppenlöffel verwandelt

Aus dem Spiel mit Worten wird langsam ein Erfassen von Begriffen, das das kindliche Bewusstsein in ein neues Verhältnis zur Welt setzt. Das Erleben, das dem gedanklichen Begreifen vorausgeht, ist für uns Erwachsene schwer nachvollziehbar, wissen wir doch jeden Gegenstand, jede Farbe, jeden Sinneseindruck meist direkt zu benennen und haben bereits vor dem Erleben eine Empfindung dazu. Das kleine Kind begegnet diesen Erlebnissen zunächst vorbehaltlos mit aller Offenheit, und fühlt sich dabei selbst noch als Teil der Welt und nicht als Ich.

Setzt die Sprachentwicklung in der beschriebenen Weise mit dem Finden von Begriffen ein, löst sich das Kind aus dem unmittelbaren Erleben. Die körperliche Entwicklung setzt hier schon ein Signal, indem das Kind zu dieser Zeit zumindest körperlich den eigenen »Standpunkt« – im wahrsten Sinne des Wortes – gefunden hat. Indem es Begriffe bildet, zeigt das Kind mehr und mehr, wie es aus dem Erleben der Welt zur eigenen Identität gelangt, die es ins Verhältnis zur Umwelt setzt.

Der Höhepunkt dieses Entwicklungsschrittes im Denken äußert sich dann, wenn das Kind von sich als »Ich« spricht. Unsere Erinnerung an die Kindheit reicht zumeist bis zu diesem Zeitpunkt zurück. Dieses Erlebnis tritt etwa um das Alter zwischen zweieinhalb und drei Jahren ein. Erst von diesem Zeitpunkt an kann das Kind aus der Begriffsbildung heraus Phantasie entwickeln. Erst dann kann der Stock in der Pfütze zum Suppenlöffel werden. Vorher fehlt schlicht das Begriffsvermögen dazu. Dem phantasievollen Spiel des über dreijährigen Kindergartenkindes geht ein rein sinnliches Spiel mit den Gegenständen der Umgebung voraus, die zunächst erfahren, dann benannt und dann begriffen werden müssen.

Kinder müssen nicht von Erwachsenen bespielt werden

Erkennen wir als Erwachsene die Besonderheit dieser Zeit in der Biographie des uns anvertrauten Kindes, und damit auch die innewohnende Weisheit der genannten Entwicklungsschritte, so resultiert daraus nicht nur eine große Ehrfurcht, sondern wir ahnen auch die Verantwortung, die wir für ein gedeihliches Milieu tragen.

Was erfordert dieses Lebensalter von den Erwachsenen für eine Haltung? Am Wichtigsten ist, dass das Kind eine sichere, tragfähige Bindung zu seinen Bezugspersonen erlebt. Diese Bindung entsteht durch das Wahrnehmen der Kinder und ihrer Spiele durch die Erwachsenen. Wenn ein Kind beispielsweise mit Mühe krabbelnd einen steilen Hügel erklimmt, dann sucht es als erstes den Blickkontakt und damit die Anerkennung des Erwachsenen. Das müssen wir leisten. Wir müssen das Kind sehen!

Das nächste ist die Zurückhaltung. Das Spiel mit der Bewegung darf nicht gestört werden. Auch wenn wir als Erwachsene erkennen, dass es auf andere Weise vielleicht einfacher wäre, ermöglicht diese Zurückhaltung dem Kind eigene Erlebnisse, deren Auswirkung mit der Einzigartigkeit der Entwicklung dieses Kindes zu tun hat.

Ein weiterer Faktor ist die Ansprache des Kindes durch den Erwachsenen. Diese ist nicht nur Voraussetzung für den Spracherwerb, sondern auch »Beziehungsmittel«. Wichtig ist, dass sich der Erwachsene der Verantwortung bewusst ist, die er in Bezug auf die Bildung von Begriffen hat. Solange das Kind noch nicht die Phantasiefähigkeit ausgebildet hat, sollten wir seine Erlebnisse nicht mit vorgefertigten Bildern zudecken. Das kleine Kind füllt den Sand in ein Förmchen und wir sollten keinen »Kuchen« daraus machen, denn es ist noch nicht in der Lage, diesen Zusammenhang selber zu erzeugen. Wir beeinträchtigen dadurch sein Erleben der Begriffsbildung.

Das Kind will seine Bezugsperson in sinnvollem Tun erleben. Es fühlt sich erst durch die sinnvolle Beschäftigung des Erwachsenen wie die Essenszubereitung, das Aufräumen und Saubermachen zur eigenen Tätigkeit aufgerufen. Oft verstehen die Erwachsenen es als Ausdruck der Fürsorge, wenn sie die Kinder »bespielen«, oder ihnen alle Hindernisse aus dem Weg räumen und immer eingreifen, sobald eine Beschäftigung dem Kind Mühe bereitet. All das ist tatsächlich nicht notwendig, sondern hinderlich für die Entwicklung. Denn Widerstände lassen uns die eigene Identität erleben.

Kinder unter drei Jahren brauchen einen Schutzraum, um sich individuell entwickeln zu können. So wie im Kindergartenalter eine intellektuelle Ansprache vermieden werden sollte, sollte Vorsicht im Hinblick auf die (oft gutgemeinten) Beschreibungen von abstrakten Zusammenhängen walten, zu denen auch der verfrühte Appell an die Phantasie im Spiel zählt. Das allmähliche Einleben der Kinder im »Diesseits« ist als eine Art »Durchdringung« zu verstehen: Je nach Intensität des einzelnen Entwicklungsschrittes kann diese Durchdringung mehr oder weniger gut gelingen. Hier können wir als aufmerksame Erwachsene einen wesent­lichen Beitrag leisten.

Literatur: Rudolf Steiner: Die Erziehung des Kindes vom Gesichtspunkte der Geisteswissenschaft, Dornach 1987; Rudolf Steiner: Allgemeine Menschenkunde als Grundlage der Pädagogik, Dornach 1992; Jean Paul: Knospe der Kindheit, Stuttgart 1990

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