Der atmende Tag des kleinen Kindes

Von Philipp Gelitz, Januar 2013

Das Leben im Waldorfkindergarten ist stark durch Rhythmus geprägt. Rhythmisch wiederholen sich Tätigkeiten wie Backen und Basteln und auch die Ereignisse im Wochen- und Jahreslauf. Daneben kommt dem Tageslauf mit seinem Wechsel aus Freispiel und Führung sowie der Abwechslung des Spielens im Haus und Spielens im Garten eine zentrale Bedeutung zu.

Foto: Charlotte Fischer

Alles wie immer 

Jeden Morgen dasselbe: Anna steht auf, zieht sich an, frühstückt und geht mit ihrer Mutter um 8 Uhr zum Kindergarten. Dort angekommen, sieht sie ihre Kindergärtnerin bei einer hauswirtschaftlichen Tätigkeit, verabschiedet ihre Mutter mit der immer gleichen Geste, hilft dann kurz beim Backen, Schnippeln, Sägen oder Putzen und taucht daraufhin in ein freies und von niemandem angeleitetes Spiel ein. Wenn die Kindergärtnerin ihren Arbeitsplatz aufräumt, merkt sie, dass bald alle aufräumen, und es geht im Tageslauf weiter mit Fingerspielen, Singspielen und einem gemeinsamen Frühstück. Anschließend geht es hinaus in den Garten, wo sich Anna wieder frei ihrem Spiel mit Sand und Erde hingibt. Wenn es wieder hineingeht, waschen sich alle die Hände und hören gespannt der gleichen Geschichte wie gestern zu.

Rhythmus gibt Sicherheit

Die Sicherheit, die hierbei entsteht, stellt sich erst durch die tägliche Wiederholung der immer ähnlichen Abläufe ein. Dabei ist es völlig irrelevant, ob Kindergarten im Haus oder im Garten beginnt, oder ob ein Kind nur am Vormittag oder ganztags den Kindergarten besucht. Entscheidend ist die tagtägliche Wiederholung und damit das unbewusste Wiedererkennen der zeitlichen Struktur des Tages. Die Kraft, die verbraucht würde, um sich auf immer neue, vielleicht sogar täglich wechselnde Attraktionen einzustellen, kann sich ganz dem unbewussten leiblichen Lernen zuwenden: spielen, balancieren, hinfallen, aufstehen, Löffel halten, klatschen und singen. So wird unter dem Schutz der Sicherheit gebenden Struktur des Tages implizit alles Notwendige gelernt – und zwar ohne Erklärungen.

Im Wiederkehrenden geborgen

Besonders gesund ist der Tag für die kleinen Kinder, wenn sich die Abwechslung zwischen Haus und Garten sowie zwischen Freispiel und Führung nicht bloß auf den Vormittag beschränkt. Wollen Eltern diesen kraftsparenden Rhythmus auch zu Hause weiterpflegen, empfiehlt es sich, am Nachmittag und am Wochenende Einkehr und Auskehr in einer gesunden Waage zu halten. Dabei sollte man darauf achten, dass die Nachmittage in ihrer zeitlichen Struktur immer ähnlich bleiben, um dem Kind Sicherheit zu vermitteln. Wenn es immer zuerst eine stille Stunde zum Ausruhen oder Schlafen gibt, dann ein kleines Essen, und es dann hinaus zum Spielen in die Natur geht, dann ist ein einfaches Grundgerüst gefunden, in dem die Kinder frei und zugleich in einer atmenden Struktur geborgen ihren Spielen nachgehen können.

Zu viel Form oder zu viel Freilassen?

Um im Kindergarten und zu Hause so gesund wie möglich zu erziehen, lohnt es sich, einmal selbstkritisch hinzuschauen, in welcher Weise zu viel Form und Führung und in welcher Weise zu viel Freilassen ein gesundes Atmen des Tages behindern. Wenn im Ganztagskindergarten alle Aktivitäten am Vormittag stattfinden und die Kinder wenig Zeit zum freien Spiel haben, dafür am Nachmittag aber gar nichts stattfindet, außer Warten auf Mama, muss an der einen oder anderen Stelle korrigiert werden. Oder wenn es zu Hause aus lauter Liebe zum freien Spiel zwischen Mittagessen und Abendbrot keine Einkehr durch ein gemeinsames Essen oder ein gemeinsames Spiel gibt, dann atmet der Nachmittag eben nicht, sondern fliegt auf und davon.

Atmende Pädagogik

Rudolf Steiner schreibt den Waldorfpädagogen Folgendes ins Stammbuch: »Unter all diesen Beziehungen, welche der Mensch zur Außenwelt hat, ist die allerwichtigste das Atmen.« Aber: »Das Kind kann noch nicht innerlich richtig atmen, und die Erziehung wird darin bestehen müssen, richtig atmen zu lehren.« Außerdem hänge die Verbindung von Geist und Seele des Menschen mit seinem Leib vom »richtigen« Atmen und vom Verhältnis zwischen Schlafen und Wachen ab. Für die Vorschulpädagogik bedeutet eine Rhythmisierung des Alltags, dass die Kinder regelmäßig zwischen dem freien Spiel und geführten Aktivitäten sowie zwischen Haus und Garten wechseln. Das Kind lernt dann das Atmen als Prozess – das »Prinzip Atmung« – äußerlich kennen und bildet an diesem Vorbild des atmenden Tages nachahmend seine Leiblichkeit heran. Die Nachahmung ist in den ersten Jahren so stark, dass die körperliche Bildung von dem abhängig ist, was in der Umgebung geschieht. Ein rhythmisch gestalteter Tag ohne Brüche im Zusammenhang mit rhythmischen hauswirtschaftlichen Tätigkeiten, rhythmischer Sprache und rhythmischem Gesang ist die beste Grundlage, um ein gesundes Herz-Kreislauf-System heranzubilden und um später in der Schule etwas wahrnehmen und sich konzentrieren zu können. Die in der Schule und auch im Leben benötigte Fähigkeit, aufzunehmen und wiederzugeben, anzuspannen und wieder loszulassen, auszukehren in Aktivität und wieder einzukehren in der Begriffsbildung, hängt stark von der Rhythmisierung des Alltags im Kleinkind- und Kindergartenalter ab. Hier wird die leibliche Grundlage für späteres seelisches Anspannen und Entspannen gelegt.

Chronobiologie und pädagogische Praxis

Für eine Rhythmisierung des Alltags bieten die Forschungsergebnisse der Chronobiologie wertvolle Erkenntnisse. Als erstes seien hier die 90-minütig wiederkehrenden Schlafneigungspunkte genannt. Alle 90 Minuten haben wir ein kleines Tief, bei dem die Bereitschaft einzuschlafen ein wenig erhöht ist. Dazwischen haben wir ebenfalls alle 90 Minuten einen Konzentrationshöhepunkt. Dieser 90-Minuten-Rhythmus ist tief im menschlichen Leben verankert.

Auch die Schlafforschung zeigt alle 90 Minuten Tiefschlaf und dazwischen alle 90 Minuten eine sogenannte R.E.M.-Phase (Rapid Eye Movement – schnelle Augenbewegungen) mit Bewegungen und Träumen. Jede Arbeitseinheit, jeder Vortrag und auch die lernintensiven Doppelstunden in der Schule nehmen unbewusst Rücksicht auf diesen 90-Minuten Rhythmus. Länger kann man sich ohne Pause nur schwer konzentrieren. Und hier wird es für den Kindergarten interessant: Wie lange dauern denn die einzelnen Phasen? Wie lang ist die geführte Phase vom Aufräumen über die Spiele und das Frühstück bis zum Anziehen? Wie lang darf das Freispiel dauern? Wie lang ist Mittagsruhe? Wie lang geht’s am Nachmittag noch einmal hinaus? Und ebenso zu Hause: Wird das freie Spiel im Garten oder »auf der Straße« rechtzeitig durch etwas anderes abgelöst? Wie lange zieht sich der Sonntagvormittag im heimischen Wohnzimmer denn hin? Berücksichtigt man solche Fragen, dann kann der vorher beschriebene Wechsel aus Freilassen und Führen in seiner zeitlichen Gestaltung noch genauer angeschaut werden.

Leistungshoch und Mittagstief

Alle Untersuchungen zeigen ein nächtliches Leistungstief gegen 2 Uhr, ein Mittagstief gegen 14 Uhr, ein erstes Leistungshoch gegen 10 Uhr und ein zweites gegen 17 Uhr. Auch wenn die Lebenserfahrung zeigt, dass Kleinkinder etwas früher dran sind und es sowohl ausgeprägte Frühaufsteher (»Lerchen«) als auch Spätaufsteher (»Eulen«) gibt, bleibt das vormittägliche Leistungshoch, das Mittagstief und das Hoch am Nachmittag immer vorhanden. Überfordern wir die Kinder also nicht mit irgendwelchen Aufgaben in der Zeit nach dem Mittagessen! Gönnen wir ihnen Ruhe! Die Lebenskraft wird an anderer Stelle gebraucht, nämlich im Verdauungstrakt. Und so wie wir uns als Erwachsene gegen 14 Uhr mächtig aufraffen müssen, wenn wir etwas Ordentliches zustande bringen wollen, so werden kleine Kinder bei mangelnder Ruhe oft fahrig, sprunghaft und sehr raumgreifend in ihren Spielen. Danach allerdings darf es dann ruhig kraftvoll dem zweiten Leistungshoch entgegengehen. Wenn man es als Erziehender in der Umgebung des Kindes schafft, am Nachmittag etwas vorzubereiten, das am nächsten Morgen gebraucht wird, dann ist sogar der Atembogen von einem Tag zum nächsten bewusst gepflegt. So kann aus dem Leben heraus ein Erinnern an Gestern und ein Gefühl für Vor- und Nachmittag erwachen, ohne dies explizit abzurufen.

Endogene und exogene Rhythmen

Es gibt zwei körperlich-funktionell (endogen) veranlagte Rhythmen, auf die wir als Erziehende achten sollten – den 90-Minuten-Rhythmus und die Leistungsbereitschaft über den gesamten Tag mit seinem Mittagstief. Diese beiden Rhythmen sind gegeben. Sie sind natürlich. Vor diesem Hintergrund dürfen sich dann die beiden von außen (exogenen) pädagogisch geführten Rhythmen einstellen – der Wechsel aus freiem Spiel und Form sowie der Wechsel von Drinnen und Draußen. Diese Rhythmen sind »kultürlich««, aber notwendig für das gesunde Werden des Kindes.

Übergänge

Beim Tagesrhythmus stellen im Kindergarten die Übergänge die problematischen Momente dar. Beispielhaft sei hier das Aufräumen genannt. Dies ist eine der größeren Herausforderungen für die Pädagogen. Hier wird der Übergang vom Freispiel zu einer geführten Phase des Tages eingeläutet. Gesund ist es, wenn der Übergang fließend vonstatten geht. Das heißt, wenn zuerst die Kindergärtnerin ihren Arbeitsplatz aufräumt, dann in der einen oder anderen Ecke mit Aufräumen beginnt und die Kinder sie dann nachahmen und mittun. Außerdem hilft bisweilen das immer gleiche Lied, um den Kindern ohne verstandesmäßigen Appell die Aufräumzeit zu signalisieren. Hierbei ist übrigens der Grat zwischen einer gesunden Ritualisierung der Aufräumzeit und einem plötzlichen Bruch im Tagesablauf durch das Signal »Aufräumzeit – es ist so weit!« sehr schmal. Man beobachte sich einmal dabei! Das gilt für den Kindergarten genauso wie für zu Hause!

Weitere »kritische« Übergänge sind der morgendliche Abschied von den Eltern, der Gang vom Frühstückstisch zur Garderobe, von draußen zurück ins Haus und in den Ganztagsgruppen ganz besonders der Übergang vom Mittagstisch übers Zähneputzen zur Ruhezeit sowie nach der Ruhe oder dem Schlaf zurück ins Spiel. Vorbild für gesunde Übergänge kann der eigene Atemrhythmus sein. Man beobachte einmal den Übergang vom Einatmen zum Ausatmen. Das ist etwas ganz anderes als ein Blasebalg. Nach dem Atemzug gibt es zunächst ein Schwächerwerden des Einatmens, dann einen kurzen Nullpunkt, dann ein langsames Anschwellen des Ausatmens und erst dann ein volles Ausatmen. Wer sich das zum inneren Bild nimmt, wird es schaffen, weniger Brüche im Ablauf und mehr fließende Übergänge zu schaffen. Dann geschieht alles in Wellen. Und was in Wellen geschieht, ist lebendig!

Zum Autor: Philipp Gelitz, Waldorferzieher, tätig als Kindergärtner im Waldorfkindergarten des Bildungshauses Freie Waldorfschule Kassel, Vater einer Tochter.

Literatur: Michaela Glöckler: Gesundheit und Schule. Reihe Persephone, Band 11, Dornach 1998; Bernd Roßlenbroich: Die rhythmische Organisation des Menschen, Stuttgart 1994; Wolfgang Schad: Die Zeitordnung im Menschen und ihre pädagogische Bedeutung, aus: »Erziehungskunst« 05/1994; Rudolf Steiner: Allgemeine Menschenkunde als Grundlage der Pädagogik, 1. Vortrag (21.8.1919), Dornach 1992; Philipp Gelitz: Chronobiologie in der pädagogischen Praxis, »Erziehungskunst« 01/2009

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