Der schmale Grat zwischen Erfüllung und Erschöpfung
Vermutlich kennt jeder Mensch, der mit oder an anderen Menschen arbeitet, dieses Gefühl einer Gratwanderung zwischen Erfüllung und Erschöpfung. Auch wenn man seinen Beruf noch so gerne ausübt, gibt es immer wieder Momente, in denen man an Grenzen stößt.
Es ist eine einschneidende Veränderung, ein Kind zu bekommen. Mit der Geburt ändert sich alles. In dem Moment, als ich mein eigenes Kind zum ersten Mal in den Armen hielt, erfüllte mich ein unbeschreibliches Glücksgefühl. Es war ein Moment der puren Erfüllung. Eine große Ehrfurcht erwuchs mir bei den Beobachtungen darüber, wie sehr ein Neugeborenes sich seinen kleinen Lebensraum lernend erobert. In dieser Ehrfurcht, die in mir erwachte, liegt eine tiefe innige Liebe. Aus dieser Liebe schöpfte ich die Kraft, alles zu tun, was dieses kleine Wesen brauchte. Das ist ganz schön viel, denn am Anfang ist es ja vollkommen auf die Hilfe der Eltern – als sein nächstes Umfeld angewiesen.
Das Ankommen auf der Erde bedeutet einen sehr großen Schritt. Artikulieren kann sich ein so kleiner Säugling ja erst einmal nur durch Schreien. Auch für mich als Mutter war alles ganz neu. Auch ich wuchs erst allmählich in die neue Aufgabe hinein, vor allem mussten das Kind und ich uns überhaupt erst kennenlernen. In dieser ersten Zeit gab es dann auch immer wieder Momente, in denen ich an meine Grenzen gestoßen bin. Plötzlich fühlte ich mich genau so hilflos wie das kleine Kind und wusste weder vor noch zurück. In solchen Momenten kann die Liebe, die ich zum Kind verspüre, für kurze Zeit ganz überdeckt sein von Verzweiflungsgefühlen, von Erschöpfung und teilweise auch von Ungewissheit.
Aufopferung ist gefährlich
Doch: Je mehr ich bei mir selbst oder in mir selbst ruhe, desto mehr Kraft, Gelassenheit, Geduld und Ruhe kann ich dem Kind entgegenbringen.
Das ist zwar einfach gesagt, aber dahinter liegt ganz viel. Gerade als frischgebackene Mutter gibt man zunächst praktisch alles von sich an das Kind und muss bewusst lernen, dies stückweise zu verändern und ausgleichend auch kurze Zeitinseln für sich zu reservieren. Tut man dies zu wenig, kann diese Aufopferungshaltung über Jahre andauern und ureigenste Fragen und Bedürfnisse müssen hinten anstehen und sammeln sich an. Allerspätestens wenn die Kinder wieder aus dem Haus sind, merkt man dann wohl, wie sich da eine Leere auftut und wie fremd man sich selbst eigentlich ist, wenn die große Aufgabe des Mutterseins langsam endet. Dass man diesen Verzicht auf die Erfüllung eigener Bedürfnisse überhaupt so lange aushalten kann, dafür ist die Liebe zu den Kindern und der Wunsch und Anspruch, sie so gut wie möglich in allem zu begleiten, verantwortlich.
Solange man sich als Mutter die Freude bewahrt, ist man einerseits »bei sich«, doch dieses Bei-sich-Sein ist nicht so bewusst und kann deshalb durch äußere Umstände, Überforderung und durch Erschöpfung ins Gegenteil kippen, sodass man sich ganz verloren fühlt.
Schlimm ist es nur, wenn zwischen solchen Erschöpfungsmomenten zu wenig Zeit bleibt, um die Freude und Liebe wiederzufinden. Dies kann dazu führen, dass die Geduld gegenüber dem Kind nachlässt, was wiederum bewirkt, dass man weniger beweglich und strenger wird und mehr und mehr das Negative statt das Positive in allem sieht. All dies kann in einer manifesten Überforderung und Erschöpfung münden, aus der es sehr schwierig ist, alleine wieder herauszufinden und den Blick wieder verstärkt auf das Positive zu richten. Nie dürfte man eine Mutter verurteilen, wenn sie meint, an der Erziehung ihres Kindes zu scheitern. Man müsste die gesamte Gesellschaft dafür verantwortlich machen, die es soweit kommen lässt. Wäre Muttersein ein Beruf und würde entlohnt werden, würde sich auch eine breitere gesellschaftliche Akzeptanz einstellen. Für die Mütter und die Familien gäbe es einerseits weniger finanziellen Druck und andererseits würden die Mütter von außen Anerkennung spüren, was ihrem Selbstwertgefühl zuträglich wäre. Dies würde sie vielleicht besser für Momente der Verzweiflung wappnen.
Wenn der Überblick verloren geht
Ein möglicher Grund für eine Verzweiflung ist auch, dass eine Mutter, die sich entscheidet, ganz für ihre Kinder da zu sein, sich damit auch entscheidet, sich gewissermaßen von der Außenwelt ab- und teilweise auch auszugrenzen. Denn sie schafft unheimlich viel im und um das Haus und für das Wohl der Kinder, aber oft steht sie damit sehr alleine da. Sie findet dann oft nicht die Kraft und die Zeit, sich neben alledem genügend Zeit zu nehmen, um sich zu überlegen, was sie selbst denn noch bräuchte an Aktivitäten, Inputs oder Begegnungen, damit sie ganz erfüllt, ausgeglichen und glücklich sein kann. Wie viele Frauen zweifeln an dem, was und wie sie es tun, da es kaum jemanden gibt, der die ganze Arbeit sieht und auch wertschätzt.
Dies kann dazu führen, dass man sich im Muttersein irgendwann selbst fixiert auf ein Puzzleteil, an einem einzelnen Punkt verhakt, verkämpft und man keinen Ausweg mehr sieht. Sich selbst aus einer solchen
Situation zu befreien und das ganze Puzzle mit etwas Abstand zu betrachten, ist sehr anspruchsvoll. Gelingt es einem jedoch, kann man oft über die eigenen Zweifel und Überforderungen schmunzeln, die sich in einem Puzzleteil konzentrieren, weil man dann sieht, wie viel andere Teile es noch gibt. Die Balance zu
halten zwischen Tätigsein in einem einzelnen Puzzlestück und dem Innehalten und Betrachten des Ganzen, ist ein großes, aber zentrales Übungsfeld.
Das Gleiche gilt für den Umgang mit der Gegenwart und der Zukunft. Gegenwärtig zu sein, Unerwartetem Raum zu geben und keine To-do-Listen abzuarbeiten, lässt größere Fülle und Erfülltheit entstehen. Denn mit Kindern bewährt sich folgende Redewendung: »Erstens kommt es anders und zweitens als gedacht.«
Man kann den heutigen Kindern nichts vorspielen
Immer wieder berichten Pädagogen, dass die Menschen seit ungefähr zwanzig Jahren mit einer neuen Fähigkeit zur Welt kommen. Die Kinder zeigen eine stärkere Sensibilisierung für das Soziale, für das, was zwischenmenschlich passiert. Auch jetzt mit meiner Tochter sind mir oft ältere Menschen begegnet, die gestaunt haben, wie wach meine Tochter schon in die Welt schaut. Sogar ich selbst war erstaunt, wie früh meine Tochter begonnen hat, ihr zunächst unbekannte Menschen mit einem ganz intensiven, klaren Blick zu betrachten. Das stellt uns vor neue pädagogische Herausforderungen. Die Art und Weise, wie ich dem Kind gegenübertrete, hat große Bedeutung und Relevanz. Die allermeisten Kinder spiegeln wider,
wie es den Erziehern, Lehrern, Eltern oder eben ganz besonders der Mutter geht. Wichtig ist, dass die Mutter gut zu sich selbst ist und ihren Bedürfnissen auch Raum gibt. Dem Kind etwas vorzuspielen, geht mit dieser Fähigkeit des Kindes, mich auf eine gewisse Art zu durchschauen, nicht mehr. Dies sollte man sich immer wieder bewusstmachen und sich fragen: Wenn es mit dem Kind schwierig wird und man es kaum mehr aushält – wie geht es dann eigentlich mir?
Um Schwierigkeiten zu bewältigen, ist das der erste Ansatzpunkt.
Fünf Minuten am Tag für die eigene Mitte
Wichtig ist, sich Zeit für sich zu nehmen. Wenn ich täglich regelmäßig auch nur fünf Minuten für mich Zeit habe, beispielsweise um Tagebuch zu schreiben, dann fühle ich mich auf Dauer wohler und ausgeglichener mit mir selbst und es fällt mir leichter, die Balance zwischen dem Kleinen und dem Großen zu halten.
Wenn ich mir nicht genügend Zeit für mich und meine Fragen und Themen nehme, ist auch nicht wirklich Zeit vorhanden, in der ich im Sinne der Selbsterziehung Erlebtes reflektieren und an mir arbeiten kann. Selbsterziehung ist jedoch notwendig und unabdingbar für jede Erziehung. Der polnische Pädagoge Janusz Korczak (1878-1942) hat dies sehr klar ausgesprochen: »Erkenne dich selbst, bevor du Kinder zu erkennen trachtest. […] Unter ihnen allen bist du selbst ein Kind, das du zunächst einmal erkennen, erziehen und ausbilden musst« (1920).
Auf dem Grat zwischen Erschöpfung und Erfüllung muss jeder seine eigene gesunde Mitte finden. Es ist ein Balanceakt, aber mit der Zeit wird man immer sicherer und lernt, die eigenen Bewegungen zwischen den beiden Seiten bewusster wahrzunehmen und zu lenken.
Zur Autorin: Sina Lux ist Mutter von zwei Kindern und macht zur Zeit die Erzieherausbildung am Rudolf-Steiner-Institut in Kassel.
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