Die Bauhütte des Lebens
Die folgenden Überlegungen sind durch die Begegnung mit Imre Makovecz, dem großen ungarischen Architekten, angeregt worden.

Der Kindergarten in Solymar / Ungarn

Der Kindergarten in Solymar / Ungarn

Der ungarische Architekt Imre Makovecz (Mitte)
Ein Kind sollte auf dem Dorf aufwachsen. Wenn das nicht geht, sollte das Haus, in dem es lebt, ein wenig von einem Dorf haben. Ein Kindergarten der Zukunft wird so sein, dass er ein Dorf werden kann. Küche, Stall, Scheune, Werkstatt – das sollte im Ansatz da sein. Und zwar echt, nicht zurechtgemacht für Kinder. Schließlich sollen die Erwachsenen auch als Menschen voll dort sein und arbeiten können, nicht pädagogisch herabgebeugt.
Die Kinder kommen von oben, also sollen wir sie nicht zu uns hochziehen, sondern herabbitten. Das Motiv der Jakobsleiter gehört ins Kinderleben. Die kleinen Kinder wollen hinauf, weil sie von dort her kommen. Sie wollen spüren, dass es ein Oben und ein Unten gibt, – steigend, kletternd, rutschend. So wird das Haus für Kinder mindestens eine obere Ebene haben und ein Dach, das sich an einer Stelle öffnet, vielleicht sogar eine Kuppel. Ein solches Haus ist eines der Bewegung. Es ist ein Bewegungsinstrument, so wie eine Geige ein Klanginstrument ist. Ein gutes Bewegungsinstrument zeichnet sich dadurch aus, dass es Bewegung anregt, zugleich aber beruhigt und harmonisiert. Ein solcher Bau verhält sich zu den Kindern und zu den beteiligten Erwachsenen wie eine Baumkrone zum Vogelschwarm, ein Bienenkorb zu den Bienen, ein Ameisenhaufen zu den Ameisen.
Aber ein gutes Haus hat auch einen Klang, den jedes Kind hört, auch wenn es äußerlich still erscheint. Der Ton oder Tonus des Hauses bildet sich aus der Übereinstimmung von Material, Konstruktion und Bauprozess, also Arbeit. Der Arbeits-, das heißt, Menschenklang ist in ein gutes Haus eingebaut, und Kinder erleben ihn, weil sie selber in ihrem Leibesaufbau und -prozess einen Tonus, einen Klang haben. Auch wenn der Bautonus still erscheint, so ist er spürbar an jeder Stelle, die das Kind berührt, vor allem beim Gehen. Die musikalische Bauspannung, wie bei einer Saite, durchzieht den ganzen Bau. Darf ein Kind einen solchen Bau nicht erleben, dann fühlt es sich um ein Wesentliches betrogen, auch wenn es nichts davon weiß. Denn es kommt vom Kosmos, dem Weltenbau, und es erhofft und erwartet, dass die Erdenverhältnisse die Himmelsproportionen spiegeln und bestätigen. Das Kind möchte Höhe, Helligkeit, Licht und Weite erleben, im Hinauf- und Hinabgehen. Es möchte aber auch in die Enge und in die Dunkelheit hinein. Es möchte sich verbergen können. Also braucht das Haus einen guten Keller, ja fast eine Krypta, denn ein Haus hat für das Kind auch den Charakter eines Tempels.
Werkstätten und Küchen, Keller und Dachböden
Aber worin erlebt das Kind ein zu Verehrendes? Im Arbeitsprozess der großen Leute. Wo geschmiedet, gehobelt, gesägt, genagelt, geschraubt wird, wo Produkte und wo Abfall entstehen, fühlt sich das Kind zu Hause. Weil der Kosmos eine große geistige Werkstatt ist, sucht das Kind die Bestätigung in der irdischen Werkstatt.
Arbeiten wir gut und hingegeben, dann erlebt das Kind Moral. Denn Moral ist die Empfindung, dass in der Welt gebaut wird und dass die ganze Welt ein stimmiger Bau, eine Bauhütte ist. Deshalb ist das Kind froh, wenn das Haus nicht ganz fertig ist. Immer ist noch etwas zu bauen. Auf Fertiges und vor allem auf Ästhetisches legt das Kind keinen Wert. Also sind eine gewisse Derbheit und Rauhigkeit der Wände, des Bodens, dem Kinde lieber, als wenn es dauernd überall aufpassen muss. Der Werkstatt auf der einen Seite entspricht die Küche auf der anderen. Ja, wenn wirklich das Dorf entsteht, werden es viele Werkstätten sein und Küchen. Die Küchen können zu Laboratorien werden, die Heilmittel herstellen, Substanzen, Kosmetika, Farben für Maler. Wenn ebenerdig gearbeitet wird, kann oben im ersten, im zweiten Stock die Muße herrschen. Hier kann getanzt, gesungen, erzählt und gemalt werden und sich besonnen werden auf das große Lebensziel. Im Keller werden Dinge und Produkte gelagert. Da ist es ein wenig unheimlich und man kann sich gut verstecken. Vielleicht kann da sogar eine Quelle sein, ein Brunnen, oder ein Bach fließt hindurch. Vom oberen Stockwerk kann man hinausgehen. Um den Bau ist eine Balustrade, von der man über die Landschaft hinschauen kann. Da gibt es eine Leiter, es gibt eine Treppe und eine Rutsche. Überhaupt gibt es viele Treppen, Leitern, Kletterbäume und eine enge Wendeltreppe.
Es gibt Säulen, Pforten, Nischen. Die Fenster sind oben, das Licht kommt von oben, man sieht ebenerdig nur durch kleine Öffnungen nach außen.
Wenn der Bau oval ist, dann kann an einer Schmalseite die Wand beweglich sein, nach Süden, so dass man sie im Sommer wegnehmen oder zusammenschieben kann. Dann sind Innen und Außen, sind Garten und Haus miteinander verbunden. Eine Feuerstelle ist in der Küchennische, eine in der Werkstattecke. Vielleicht gibt es einen großen offenen Kamin oben oder unten.
Kinder lieben Baustellen
Der Architekt braucht einen Auftrag, eine Idee, Geld. Die Bauherren oder -frauen brauchen dazu noch eine Gemeinschaft, die zu mehr da ist, als zum ersten Bau, also eine Arbeitsgemeinschaft, eine Bauhütte. Ein Bau hat aus dem Sozialen zu wachsen, wie die Pflanze aus dem Boden, die Perle aus der Auster, wenn er sozial verträglich sein soll.
Ist der Bau zu groß, zu vollkommen, zu ästhetisch perfekt, weil der Architekt sich darin verwirklichen will, so greift er in seiner Idee und in seinem Anspruch der Menschengruppe voraus, – das sind die bitteren Erfahrungen an vielen Orten und durch viele Jahre. Er saugt dann Kraft und Ideen von den Menschen ab und schädigt die Gemeinschaft. Eher sollte der Bau ein wenig zu klein sein und wachsen können. Kinder lieben Baustellen. Kindergarten und Schule sollten ein permanentes Weiterbauen ermöglichen. Ein Bau braucht einen Ort, eine Landschaft. Er steht, wenn er recht ist, an einem Punkt der Welt, von dem er ausstrahlt und an dem er mit anderen Bauten, Kräften und Gemeinschaften in Beziehung steht. So hat man es in alten Zeiten gehalten, weil man das Verhältnis zwischen Bau und Erde kannte. Und so muss es wieder werden, sollen Erde und Menschengemeinschaft zusammenkommen. Die Kinder aber sind die Prüfer. An ihnen können wir ablesen, ob wir recht handeln.
Nicht ein Ideal ist hier beschrieben, sondern ein Weg, Wege, die individuell zu beschreiten sind, wenn der gute Wille da ist, das zu tun, was die Kinder als Träger einer neuen Kultur brauchen.
Zum Autor: Werner Kuhfuss entwickelt mit älteren Kindern seit 2000 das Projekt »Sinnbildung im Kindesalter« im Kindergarten »Bienenkorb« in Waldkirch-Kollnau (Elztal), www.kalliasschule.de
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