Die sieben Lebensprozesse. Grundlagen des Lernens

Von Philipp Gelitz, Dezember 2014

Was haben Lebensfunktionen wie Atmung oder Ernährung mit Aufmerksamkeit oder Interesse zu tun? Das Lernen in der Schule beruht auf leiblichen Voraussetzungen. Erläuterungen zu einem Kerngedanken der Waldorfpädagogik.

Foto: © Charlotte Fischer

Mit schnellem und flachem Atem stürmt ein dreijähriger Junge in seine Kindergartengruppe. Er malt in dreißig Sekunden ein Bild, »hilft« für eine Minute beim Äpfelschneiden und spielt in der Folge in fast jeder Ecke des Raumes für kurze Zeit. Die Worte der Erwachsenen rauschen an ihm vorbei. Aufräumen kann er nicht, die Fingerspiele scheint er kaum wahrzunehmen und beim Essen redet er viel. Dreieinhalb Jahre später kommt der gleiche Junge ruhig zur Tür herein, gibt den Erwachsenen die Hand, malt in Ruhe ein Bild, atmet einmal tief durch und greift dann für dreißig Minuten seine Arbeit an der Werkbank von gestern wieder auf. Dabei fragt er genau nach, was zu tun ist, und setzt die Vorschläge gerne um. Bei den Fingerspielen bemüht er sich, alles genau so wie die Erwachsenen zu machen. Was ist passiert? Beim Kind ist etwas zum Vorschein gekommen, das vorher noch nicht sichtbar war. Eine Beschäftigung mit der Verwandlung des Menschen um das siebte Lebensjahr herum ermöglicht hierfür ein tieferes Verständnis.

Die Metamorphose der Lebenskräfte

Die Lebensvorgänge im kindlichen Organismus brauchen Zeit, um zu reifen. Tiefe Atmung, gute Durchblutung, geregelte Nahrungsaufnahme und Verdauung müssen sich erst einspielen und ordnen. Erst aus der Metamorphose dieser Lebensvorgänge, die mit dem beginnenden Zahnwechsel einsetzt, entwickeln sich die für die Schule benötigten seelischen Fähigkeiten. Wird die Lebenskraft nicht durch Erklärungen, intellektuelle Nachfragen oder durch falsch verstandenes, verfrühtes Lernen abgezogen, kann sie ungehindert in der Bildung des Körpers wirken, um sich dann aus dem Aufbau des Leibes zu befreien. Jetzt, mit etwa sieben Jahren, können Vorstellungs-, Denk- und Erinnerungsleistungen abverlangt werden, die den Organismus nicht mehr belasten. Die Möglichkeiten zum schulischen Lernen, zu Interesse, Aufnahmebereitschaft und Vorstellungsbildung entstehen durch freigewordene Lebenskräfte, die vormals den kindlichen Leib aufgebaut haben.

Die sieben Lebensprozesse

Ein wichtiger Aspekt dieser Lebenskraft ist die Betrachtung der unterschiedlichen Prozesse, die uns ständig durchströmen und uns am Leben halten.

Der erste dieser Prozesse, der nach der Geburt als erstes unmittelbar einsetzt, ist die Atmung. Von ihr sind ab Geburt die anderen Lebensprozesse abhängig, da wir, ohne zu atmen, nicht am Leben bleiben würden. Hiermit sind sowohl die Atmung der Lunge als auch rhythmische Prozesse in der Verdauung und organische Rhythmen gemeint.

Der zweite grundlegende Lebensprozess ist die Wärmung. Wir können uns erwärmen und abkühlen. Fortwährend gleichen wir die Umgebungstemperatur aus und erhalten unsere eigene aufrecht. Dieser Prozess ist ein fortdauerndes Angleichen und ein Sich-ins-Verhältnis-Setzen. Auch die Möglichkeit der Erwärmung bei der Arbeit und Regulationsmechanismen wie zum Beispiel das Schwitzen haben hiermit zu tun. Zwei weitere Lebensprozesse sind die Ernährungs- und Absonderungsvorgänge. Bei der Nahrungsaufnahme sind diese beiden Prozesse eng miteinander verknüpft. Eine genaue Beobachtung kann allerdings zwischen Aufnehmen, Zusammenfügen, Zerkleinern – Ernährung – und Sortieren, Behalten, Ausscheiden – Absonderung – unterscheiden.

Der nächste Lebensprozess ist die Erhaltung. Hiermit ist die Fähigkeit des Organismus gemeint, seine Formen und Funktionen zu erhalten, das heißt, vor dem Verfall zu schützen. Man hat es mit einer Art »Form-Erinnerung« zu tun, zu der auch die Wundheilung gehört.

Zu den Lebensprozessen gehört auch das Wachstum: Sind bestimmte Funktionen oder Formen vorhanden, können diese auch wachsen. So sind zum Beispiel fertig ausgebildete Knochenformen bei Kindern noch zu Wachstum fähig, ebenso behalten die verschiedenen Organe nicht die Geburtsgröße bei, sondern wachsen, ohne ihre Form oder Funktion dabei aufzugeben.

Der letzte Lebensprozess ist die Hervorbringung. Fortdauernd vollziehen sich im Körper Hervorbringungs- oder Reproduktionsprozesse, wenn einzelne Stoffe, bestimmte Zellen oder bestimmte Organfunktionen neu produziert werden. Die Fortpflanzung aufgrund der Ausreifung der Geschlechtsorgane ist das sichtbarste Ergebnis dieses Lebensprozesses. Folgt man dem Gedanken, dass diese sieben zunächst leibgebundenen Lebensprozesse ein wichtiger Bestandteil der uns durchströmenden Lebendigkeit sind, dann kann man weiterfragen, welche seelischen Fähigkeiten sich bei der Schulreife aus der Verankerung der Lebensprozesse in der Kleinkind- und Kindergartenzeit befreien.

Lebensprozesse und seelische Fähigkeiten im Wechselspiel

Für ein Verständnis der Wechselbeziehungen zwischen autonom ablaufenden Lebensprozessen und frei werdenden seelischen Fähigkeiten lohnt es sich, den Blick einmal dorthin zu lenken, wo Vitalfunktionen gestört sind. Es gibt Kinder und Erwachsene, deren Atmung beeinträchtigt ist. In den allermeisten Fällen lässt sich bei ihnen auch ein problematisches Verhältnis zu Wahrnehmung und Aufmerksamkeit feststellen. Wer nach einer sportlichen Anstrengung völlig aus der Puste ist, sieht diesen Zusammenhang sofort ein: In Ruhe und aufmerksam einer Erklärung zu lauschen, ist mit einem Puls von 180 etwas schwierig. Und bei Kindern und Erwachsenen, die ständig kalte Füße haben und blass sind, ist oft eine gewisse Interesselosigkeit und mangelnde Begeisterungsfähigkeit zu beobachten. Wer krank ist und frierend oder schwitzend im Bett liegt, kennt das Problem. Solche Beziehungen zu seelischen Fähigkeiten kann man bei allen Lebensprozessen finden. Diese Beziehungen zu suchen, bietet eine Fülle von Verständnismöglichkeiten, wenn Kinder in den ersten Schuljahren gewisse seelische Grundfähigkeiten weniger stark ausgebildet haben. Oft sind dann Lebensprozesse noch nicht ausreichend im Körper verankert. An Aufmerksamkeit und Interesse wird dann aber bereits trotzdem appelliert, obwohl sie noch gar nicht ganz »geboren« wurden.

Aufgaben für Kindergarten und Schule

Durch eine Verankerung des Lebensprozesses Atmung entstehen Wahrnehmungsfähigkeit und Aufmerksamkeit, mit ausreichender Wärme auch Konzentration. Es ist die Aufgabe des Kindergartens und der Schule, durch einen rhythmischen Tageslauf, rhythmische Arbeiten und rhythmische Sprache, durch fließende Übergänge, Singen – und in der Schule Flöten und guter Stundenplan – über die Nachahmung die Atmung als leiblich-funktionelle Grundlage der Aufmerksamkeit zu stärken. Auch die Wärmung muss sich im Lauf der ersten Lebensjahre erst mühsam im Körper einspielen. Braucht ein Säugling selbst im Sommer noch ein Mützchen, kann ein Schulkind bereits barfuß durch den Schnee laufen. Durch die körperliche Wärmeregulation wird der Grund für Interesse, Begeisterungsfähigkeit und seelisches Anpassungsvermögen gelegt. Der Kindergarten hat die Aufgabe, solche Wärmeprozesse in der Umgebung der Kinder zu pflegen, damit sie auf diese zurückwirken: also backen, arbeiten, Kerzen anzünden und nicht zuletzt die Begeisterung der Erwachsenen. Die Kinder ahmen das im Inneren nach. Ist in der Schule eine gewisse Interesse­losigkeit zu beobachten, gilt Ähnliches. Sich für eine Sache zu erwärmen, bedeutet auch, seine Phantasie an ihr zu entzünden. Künstlerischer und vor allem bildhafter Unterricht, der den Kindern die Möglichkeit einräumt, selbst aktiv zu werden, ist ein probater Weg, sie für eine Sache zu erwärmen, das heißt, zu begeistern.

Der Bereich des Stoffwechsels mit Ernährung, Absonderung und Erhaltung wird im Kindergarten besonders gut durch Kochen, Aufräumen und Reparieren repräsentiert. Sind diese Lebensprozesse im Körper ausgereift, können die Kinder aufnehmen und sich innerlich verbinden (Ernährung), können ordnen und sortieren (Absonderung) sowie immer besser erinnern (Erhalten). Auch in der Schule kann hier noch Vieles getan werden, das die leiblich-funktionelle Seite als Grundlage für die seelische Entfaltung stärkt. »Vorgewärmter« Unterricht statt kalte intellektuelle Ansprache, geordnete Heftführung, Tafel putzen und die Klasse fegen – all dies hilft, um das Lebensgefüge als Grundlage der Lernbereitschaft zu stärken.

Auch die Lebensprozesse Wachstum und Hervorbringung müssen gepflegt werden. Aus leiblichem Wachstum entsteht seelisches Wachstum, der Wille zum Üben und zur Vervollkommnung. Aus leiblichem Hervorbringen entsteht die seelische Fähigkeit, Ideen zu bilden. Wenn im Kindergarten und in der ersten Schulzeit das Wachsen in der Natur und das Wachsen von Lernschritten mitverfolgt wird, und wenn in allen Bereichen – vom Tisch decken über das Handwerken bis zum Selber-Herstellen von Alltagsgegenständen – sowie durch künstlerische Betätigung das Produzieren, das Hervorbringen, geübt wird, dann nimmt das Kind über seine Nachahmungskräfte Vieles auf, was zu einer Stärkung dieser beiden Lebensprozesse beiträgt.

In der Schule kann noch Vieles für die Nachreifung der Lebensprozesse im Körper getan werden. Die Nachahmung wird lediglich vom freiwilligen Aufblick zu einer Autorität und ab der Pubertät vom freien Urteil überlagert. Sie bleibt als Fähigkeit aber auch in diesem Lebensalter bestehen.

Zum Autor: Philipp Gelitz ist Kindergärtner im Waldorfkindergarten des Bildungshauses Freie Waldorfschule Kassel.

Literatur: Philipp Gelitz, Almuth Strehlow: Die sieben Lebensprozesse. Grundlagen und pädagogische Bedeutung in Elternhaus, Kindergarten und Schule, Stuttgart 2014

Kommentare

Gisela Erdin, Mannheim und Kreuzlingen, 08.08.17 13:08

Das Buch: "Die sieben Lebensprozesse" von Philipp Gelitz & Almuth Strehlow, ist auch für Heilpädagogen sehr zu empfehlen. Bei Menschen mit einer geistigen Behinderung sind die Lebensprozesse häufig gestört. Das Buch trägt zum Verständnis bei Schwierigkeiten im kognitiven und seelischen Bereich im Zusammenhang mit den somatischen Problemen zu sehen.
Dr. Gisela Erdin

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