Die Umgebung erzieht die Kinder

Von Philipp Gelitz, November 2011

In der Zeit von der Geburt bis zur Schulreife sind drei Entwicklungsphasen zu beobachten. Es sind Phasen des Erwachens an der Welt. Ihre Kenntnis kann helfen, kleine Kinder besser zu verstehen und sie nicht unnötig zu überfordern.

Vorbild und Nachahmung

Kleine Kinder spielen gerne, helfen gerne im Haushalt, malen gerne und gehen besonders phantasievoll mit den sie umgebenden Dingen der Welt um. Sie ahmen nach, was ihnen vorgelebt wird und reagieren meist nicht auf die Worte der Erwachsenen, sondern auf deren Taten. Vorbild und Nachahmung ist das vereinende Prinzip, mit dem die Welt vor dem Eintritt in die Schule erfahren wird. So weit, so einleuchtend. Aber ein einjähriges Kind spielt anders als ein fünfjähriges und ein dreijähriges malt anders als ein sechsjähriges Kind. Drei Phasen können hierbei für die Zeit vor dem siebten Lebensjahr unterschieden werden, die sich als wertvoll für ein Verständnis kindlicher Entwicklung erweisen.

Das Kind macht sich mit der Welt vertraut

In der ersten Entwicklungsphase bis etwa zweieinhalb probiert das Kind die »Beschaffenheiten« seines eigenen Körpers und der »Spielsachen« aus. Von einem phantasievollen Spiel, bei dem der Holzklotz jetzt ein Boot und gleich ein Bügeleisen ist, kann meistens noch nicht die Rede sein. Es spielt mit den eigenen Fingern, es nimmt alles in den Mund und es schüttet besonders gerne ein und aus. Das Kind lernt die Welt kennen. Dabei fallen die von uns Erwachsenen herbeigesehnten Sätze wie »Das ist ein Eis!« oder »Das ist ein Kuchen!« bis über den zweiten Geburtstag hinaus nur selten. Es ist die Zeit, in der das Kind am allerintensivsten die Welt (und dazu gehört auch der eigene Körper) mit den Sinnen erfährt: Tasten, Riechen, Schmecken, Gleichgewicht, Körperwahrnehmung, Hören und Sehen – fast alle Tätigkeit des Kleinkindes ist auf die Sinneserfahrung hingeordnet. Es fasst in die Pfütze, um Nässe und Kälte zu erfahren und nicht um Suppekochen zu spielen.

Dabei ahmen die Kinder zwar besonders intensiv die Erwachsenen nach, sonst könnten sie nämlich weder Gehen noch Sprechen (noch Denken!), tun aber fast nie, was man ihnen sagt. Sie folgen dem Tun der Umgebung, nicht den verbalen Aufforderungen. Wurde bis dahin schon mal mit dem Wörtchen »Ich« experimentiert, so stehen am Ende dieser Phase das Trotzen und das voll erwachte Ich-Bewusstsein, das von nun an nicht mehr weichen wird.

Die Phantasie erwacht

In der zweiten Entwicklungsphase, die häufig von heftigen Trotzanfällen eingeleitet wird, tritt zu dem vorher Beschriebenen etwas Neues hinzu. Auch jetzt sucht das Kind den intensiven Kontakt mit den sinnlichen Erlebnissen, probiert Gleichgewichtslagen und die  Schwerkraft aus, aber es »sieht« in allem noch etwas anderes – die Phantasie ist voll erwacht. »Mama ich bin gerade eine Katze, Miau!« oder »Probier mal, der Sand ist Schokoeis!« sind die Begleiter dieser zweiten Entwicklungsphase, die bis etwa zum fünften Geburtstag reicht. Es ist die Zeit, in der alles alles sein kann, und zwar innerhalb weniger Minuten. Das Kind verinnerlicht die Welt. Oft wechseln auch die Spielpartner im Kindergarten mehrfach am Tag und die Kinder nippen am Geschehen um sie herum wie die Bienchen an den Blüten. Den Erwachsenen helfen, spielen, träumen, ärgern, trösten, Bilder malen – alles findet in rascher Folge statt. Dabei ist zu beobachten, dass die Kinder nun ein anderes Verhältnis zum Malen entwickeln: Malt ein zweijähriges Kind noch in sehr kurzer Zeit »Kritzeleien« mit großräumigen Bewegungen, so entstehen nun immer häufiger Bilder, bei denen Himmel und Erde sich trennen (grün unten, blau oben) und die Kinder »sehen« im Gemalten oft etwas Gegenständliches. Auch alle Farben werden nun zumeist verwendet, sodass bunte Bilder entstehen. Sie sind wie Abdrücke eines farbiger gewordenen Seelenlebens. Auch Reime und Lieder werden nun vermehrt mit- und nachgesungen.

Am Ende dieser Phase steht ein weniger rundliches Kind, dessen Füße, Beine und Arme langsam länger und schmaler werden: »Schau mal Mama, meine Beine gehen bis zur Erde.«

Die Welt wird erprobt

Mit etwa fünf Jahren beginnen zuerst die Füße und Hände und dann Beine und Arme in die Länge zu wachsen. Manchmal müssen sogar gleich zwei Schuhgrößen übersprungen werden. Auch hier bleiben die Erfahrung über die Sinne aus der ersten Entwicklungsphase und das phantasievolle Spiel aus der zweiten Phase erhalten, werden aber von einem neuen Zugang zur Welt bereichert: Es steht nun die Bewegung dank länger werdender Gliedmaßen im Vordergrund. Zu den weiterhin beliebten phantasievollen Spielen im Haus oder im Sandkasten treten Dinge wie die Konstruktion von Wippen und Rutschen, das Seilspringen oder auch das Stelzenlaufen mit Macht hinzu. Das Kind bewegt und erprobt die Welt. Die Kinder brauchen nun viel Platz und auch viel Zeit, um etwas, das sie sich vorgenommen haben, ins Spiel umzusetzen. Nun gehen sie nämlich nicht mehr wie die Bienchen von einem zum anderen, sondern versuchen, langsam erwachende Vorstellungen in die Tat umzusetzen. Nahm das drei- bis vierjährige Kind die Umgebung noch so, wie es sie eben vorfand, so weiß ein sechsjähriges ganz genau, dass es für das zu bauende Schiff noch zwei Stühle und drei Tücher braucht. Oft diskutieren die größeren Kindergartenkinder auch ausgiebig über ein bevorstehendes Spiel. Sie beginnen zu planen. Die Fähigkeit, im späteren Leben die eigenen Intentionen auch durchsetzen zu können, wird hier unendlich geübt. Daher ist es so wichtig, dass die Kinder nicht mit fünf in die Schule kommen, weil ihnen die Möglichkeit genommen wird, den Weg von einer Vorstellung in die tatsächliche Handlung tüchtig und ohne intellektuelle Nachfrage zu üben. Hier werden Willensstärke und Tatkraft entweder zum Blühen oder zum Welken gebracht.

Die Kinder malen nun immer häufiger gegenständlich und nach einer bestimmten Vorstellung. Beliebt ist auch das gegenseitige Abmalen. Bei vielen Kindern sieht man nun Häuser, Blumen, Bäume, Tiere und Menschen auf dem Papier.

In diese Phase gehören zudem Langeweile und wackelnde Zähne; beim einen mehr, beim anderen weniger. Sie endet mit Konzentrationsvermögen, Lerneifer und einem inneren Interesse an allem, was die Erwachsenen von der Welt zu erzählen haben: Buchstaben, Zahlen, Regeln, Rätsel, lange Märchen …

Körperliche und seelische Entwicklung hängen zusammen

Besonders interessant ist bei einer solchen Betrachtung der Zusammenhang zwischen körperlicher und seelischer Entwicklung:

In der ersten Phase steht besonders die Ausreifung der Nerven­bahnen und des Gehirns mit seinen neuronalen Verknüpfungen über Sinneserfahrungen im Vordergrund. Das zeigt sich im Spiel als Annäherung an die Welt über die »reine« Erfahrung der Zustände ringsherum – warm, kalt, trocken, nass, rau, glatt – ohne (oder mit wenig) Zutun der Phantasie.

In der zweiten Phase senken sich allmählich die Rippen und die Lunge verästelt sich stark in den Brustkorb hinein. Die Atmung wird tiefer und der Rumpf gestaltet sich etwas mehr durch, sodass der »Babybauch« mehr und mehr verschwindet. Es ist, als ob die leibliche Grundlage für ein Verinnerlichen der Welt geschaffen wird, die zu einem unglaublichen Sprudeln der Phantasie führt. Die Kinder »atmen« nun auch seelisch tiefer in die Welt hinein, und atmen das, was sie dort als Erlebnis haben, mit »Wuff« und »Miau« und farbigen Bildern wieder aus.

In der dritten Phase wachsen besonders die Gliedmaßen in die Länge und die vorher eher weichen Kinder werden schlanker und kantiger. Dies ist nun die leibliche Voraussetzung für großräumiges Spiel mit der Hebelwirkung und die Fähigkeit zum Stelzenlaufen. Da auch der Hals etwas länger wird, distanziert sich der Kopf etwas – die Vorstellungen erwachen.

Pädagogik muss Entwicklung ermöglichen

Aber was bedeutet all das für das Elternhaus und den Kindergarten? Da die Kinder in den unterschiedlichen Altersstufen verschiedene Anregungen zur Entfaltung brauchen, ist es die primäre Aufgabe von Eltern und Erziehern, eine Umgebung zu schaffen, die die beschriebene altersgemäße Entwicklung nicht behindert, sondern ermöglicht. Bildung und Erziehung im ersten Jahrsiebt heißt, Umgebungen zu gestalten.

Für die erste Kleinkindzeit heißt das: Ruhe und Zeit für Sinneserfahrungen ohne Reizüberflutung. Ein paar wenige Körbe mit Tannenzapfen oder Holzklötzen, zwei drei Tücher, ein paar ungefährliche Haushaltsgegenstände, die Möglichkeit zum Töpfe ein- und ausräumen, zum Klettern, zum Hinfallen sowie Sand, Matsch und Wasser und vor allem kein Gebimmel an Kinderwagen oder Buggy. Dann ist nämlich genug Ruhe, um mit den Fingern zu spielen oder das Mienenspiel der Erwachsenen zu studieren. Welche Wohltat, wenn Säuglinge zu Mutter oder Vater schauen dürfen und diese dann nicht telefonieren, sondern dem Kind zugewandt sind. Nur so entsteht Bindung: durch Aufmerksamkeit, durch Hinsehen und Hinhören.

Für die Zeit zwischen drei und fünf heißt das: Lieder, Geschichten, Puppen, Tiere, viele Körbe mit kleinen Dingen wie Kastanien oder Eicheln, die Möglichkeit zum Häuserbauen mit Tischen und Stühlen, Sandförmchen, Eimer, große und kleine Schaufeln und vor allem Erwachsene, die die Phantasie nicht durch altkluge Kommentare, Spielvorgaben oder Regeln ersticken. Förderlich ist hier zudem ein Erwachsener bei der Haus- oder Gartenarbeit, da die Kinder so den Schaffensdrang der Erwachsenen nachahmen und besonders intensiv in ein freies phantasievolles Spiel finden.

Für die letzte Zeit vor der Schule heißt das: viel Platz, große Bretter für Wippen und Katapulte, Stelzen, Seile. Die Kinder sollen sägen, raspeln, schleifen und hämmern können, sie brauchen aber auch Anregungen für das Feinerwerden der Motorik wie Schere, Nadel und Faden oder anspruchsvollere Fingerspiele. Besonders geeignet sind nun die Grimmschen Märchen und ab etwa sechs Jahren auch fortlaufende Geschichten. Jetzt übernehmen die Kinder auch gerne eine bestimmte Aufgabe wie Tischdecken oder Abwaschen. Beim freien Spiel jedoch sollten wir sie so frei als möglich lassen, damit sie weiterhin ihre eigenen Spiele finden und um­setzen können.

Zum Autor: Philipp Gelitz, Jahrgang 1981, arbeitet als Kindergärtner im Waldorfkindergarten der Freien Waldorfschule Kassel.

Literatur:
Rudolf Steiner: Die gesunde Entwickelung des Menschenwesens (GA 303), 7. Vortrag, Dornach 1987
Freya Jaffke: Spielzeug von Eltern selbst gemacht, Stuttgart 2007

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