Die Würde des Kindes ist antastbar
Das Grundgesetz ist in diesem Jahr 70 Jahre alt geworden. Artikel 1 besagt: »Die Würde des Menschen ist unantastbar. Sie zu achten und zu schützen ist Verpflichtung aller staatlichen Gewalt.« Kinderrechte sind Menschenrechte. Seit 1998 wacht die Kinderrechtskonvention der UN über ihre Einhaltung. Sie beinhalten als wesentlichen Bestandteil das Recht auf gewaltfreie Erziehung. Nun sollen die Kinderechte auch im Grundgesetz verankert werden. Im Gespräch mit Gabriele Pohl über Fragen, die sich an diese Initiative anschließen.

Sich verstecken und im Blick der Eltern sich unmittelbar geborgen fühlen ist ein zentrales und durch nichts zu ersetzendes Gefühl jedes Kindseins. Foto: © Charlotte Fischer
Frühe Kindheit | Was gilt es zu beachten, wenn Kinderrechte im Grundgesetz verankert werden sollen?
Gabriele Pohl | Artikel 2 des Grundgesetzes beginnt mit: »Jeder hat das Recht auf die freie Entfaltung seiner Persönlichkeit [...]«. Die Persönlichkeit entwickelt sich im Lauf des Lebens und ist auch von den Umständen dieses Lebens abhängig. Das Recht auf die freie Entfaltung der Persönlichkeit umfasst daher den Anspruch auf den Schutz der Entwicklungsbedingungen von Anfang an. Menschenrechte für Kinder umzusetzen, heißt dann, Rahmenbedingungen für eine optimale Persönlichkeitsentwicklung der Kinder zu schaffen. Gewaltfreiheit gehört zur wesentlichen Grundlage einer gedeihlichen Erziehung.
Kinder zu schlagen, ist verboten. Weniger im Bewusstsein ist, dass in der UN-Kinderrechtskonvention gewaltfreie Erziehung auch entwürdigende Maßnahmen und seelische Verletzungen meint. Tatsächlich belegen Zahlen, dass die körperliche Gewaltanwendung sowohl in den Familien als auch in den Institutionen deutlich abgenommen hat. Was aber, wenn andere, subtilere Erziehungsmaßnahmen, die seelische Verletzungen verursachen, eingesetzt werden?
FK | Welche Maßnahmen haben Sie da im Sinn?
GP | Eltern sind einem enormen Druck ausgesetzt, einerseits weil sie selbst im Erwerbsleben »funktionieren« sollen und das meist nicht nur acht Stunden am Tag, sondern auch darüber hinaus, andererseits aber sollen sie ihre Kinder so erziehen, dass diese in der Gesellschaft ebenso wie sie selbst funktionieren. Wenn ein Kind nun aus dem Rahmen fällt, ist man bereit, die Eltern in die Pflicht zu nehmen: Das geht bisweilen soweit, dass Diagnosen vergeben und die Eltern dahingehend beeinflusst werden, durch Medikamente störende »Symptome« bei ihren Kindern beseitigen zu lassen. Aber auch manche fragwürdige Erziehungsmethode kommt in der Not zur Anwendung – oft wider besseren Wissens oder gegen das eigene Gefühl –, um die gewünschte Anpassung zu erreichen. Sogenannte »Experten« suggerieren den Eltern, dass Disziplin, Strenge, Belohnung und Bestrafung Mittel sind, um aus scheinbar unbändigen Kindern brave Familienmitglieder, Schüler und Staatsbürger zu machen.
FK | Gibt es einen bestimmten Trend innerhalb der gängigen Erziehungsmethoden bei auftretenden Schwierigkeiten?
GP | Die meisten in diesen Fällen zu Hause praktizierten häuslichen Erziehungsmethoden stammen von einer simplifizierten Form der Verhaltenstherapie ab: Wenn es zu Hause Schwierigkeiten gibt, heißt es: Verstärkerpläne aufstellen, Smileys verteilen bei gutem Benehmen oder Gummibärchen, Listen an der Küchentür für schwarze Tage, an denen das Kind ins Bett gemacht hat und gelbe, wenn das nicht der Fall war. Belohnungssysteme einführen: Zehn Mal nicht ins Bett pieseln, ergibt einmal Kino als Belohnung. Fünf Mal freche Antworten, ergeben fünf traurige Smileys und einmal Fernsehverbot.
Wenn Sie unter »kidhacking« im Internet nachschauen, finden Sie ganz ausgeklügelte Systeme,
die jede, wirklich jede Handlung des Kindes – vom Zähneputzen, Toilette gehen, Teller abräumen bis ohne Jammern laufen oder selbst anziehen – mit Coins belohnen. Die Coins wiederum sind dann einzutauschen gegen: eine Serie gucken (vier Coins) oder einen ganzen Film schauen dürfen (zehn Coins). Mit diesem System können sich die Kinder Belohnungen »freischalten«. Der Autor verspricht: »Damit hast du ein wunderbares Werkzeug, um deine Kinder liebevoll zu formen!« Schon an der Wortwahl wird sichtbar, dass Kinder wie Wachs in der Hand des Erwachsenen sein sollen. So zieht der Kapitalismus fröhlich in die Kinderstube ein: Was ich tue, tue ich nur des Profits wegen, und Kinder werden zu dem gemacht, was sich der Erwachsene vorstellt: Willige Ausführungsorgane desjenigen, der das Sagen hat – wer immer das im späteren Leben sein wird.
FK | Trifft es zu, dass zunehmend – parallel zur Überfürsorge und Kontrolle – eine harte Haltung der Eltern gegenüber ihren Kindern in der Öffentlichkeit propagiert wird?
GP | Ja, leider. Die schlimmsten Auswüchse einer menschenverachtenden Haltung Kindern gegenüber sind an dem Dokumentarfilm »Elternschule« abzulesen. Gezeigt wird eine Gelsenkirchener psychosomatische Klinik, die es sich zur Aufgabe gemacht hat, verzweifelten Eltern zu helfen, deren Kinder nicht schlafen wollen, nicht essen, aggressiv sind oder auf andere Weise aus dem Rahmen fallen. Dieser Film wurde von der Presse als ein Muss für alle Eltern bezeichnet und die Therapeuten wurden zu »Kinderflüsterern« hochstilisiert. Das besondere Charakteristikum der Methode ist eine »gezielte Intervention zur Stress-Induktion«. Durch eine »Konfrontation bis an die Grenze der Belastbarkeit« würde eine »deutliche Verbesserung der Stressbewältigungsstrategien des Kindes erreicht«. Das heißt, Säuglinge und Kleinkinder sollen bewusst Stress ausgesetzt werden. Dazu gehört die sofortige, kompromisslose Trennung der Kinder von ihren Müttern – sie sollen dadurch lernen, besser mit chronischem Stress umzugehen. Kinder, die schlecht einschlafen, werden in hohe Gitterbetten in einem stockdunklen Raum verfrachtet. Dort werden sie sich selbst überlassen. Per Video werden die Kinder überwacht – Hilfe erfolgt nur, falls sie sich in ihrem Bettzeug verheddern. Kinder werden vom Betreuungspersonal zum Beispiel zum Essen gezwungen oder zum Aufstehen, wenn sie sich weinend auf den Boden geworfen haben. Das wird jeweils »erledigt«, ohne dass mit den Kindern kommuniziert oder gar eine Beziehung aufgebaut wird.
In den anschließenden Besprechungen in den Medien ging es dann hoch her. Gegner dieser Methoden wurden diskriminiert, das Konzept wurde größtenteils vehement verteidigt, Journalisten durften geplagte Kinder als »durchgeknallte Heulsusen« bezeichnen, die ihre Eltern »mit ihren Kullertränen erweichen«.
FK | Was passiert mit Kindern, die solch massive Eingriffe erfahren?
GP | Wir wissen aus der Bindungstheorie, dass Trennungsängste niemals durch gewaltsame Trennung verschwinden. Nur durch eine starke und sichere Bindung wird dem Kind allmählich eine Loslösung möglich. Die Blicke der Kinder, die das Training »erfolgreich« absolviert haben, sind leer. Sie haben resigniert und sind gebrochen.
Kinder, die permanent entwürdigt werden, werden später nicht selten zurückschlagen und sich an Schwächeren für das rächen, was ihnen in ihrer eigenen Kindheit zugefügt wurde. Um ein positives Selbstbild aufrechtzuerhalten, müssen andere Menschen klein gehalten und verachtet werden.
FK | Wie sieht es mit der Entwürdigung innerhalb der Medien aus?
GP | Auf youtube gibt es rund 35.000 Videos von Kindern, die auf die eine oder andere Weise vorgeführt, beschämt oder herabgewürdigt werden.
Extreme, wie die »Scharfe-Soßen-Mutter«, die aufnimmt, wie sie ihren siebenjährigen Sohn bestraft, indem sie ihm Tabasco-Soße in den Mund schüttet und ihm kalte Duschen verabreicht, rufen mehrheitlich Entsetzen hervor und werden definitiv als Kindesmisshandlung gewertet. Aber was ist mit den »harmloseren« Fällen, dem sogenannten »public shaming«? Der Komiker Jimmy Kimmel fordert in seiner TV-Show Eltern auf, ihre Kinder zu täuschen, sie zu belügen und sie dabei zu filmen. Ein Video, das zeigt, wie ein Vater seinem Kind erzählt, er habe alle seine Halloween-Süßigkeiten aufgegessen und die fassungslose, enttäuschte Reaktion des weinenden Kindes darüber filmt, bekommt 1,4 Millionen Klicks. Die überwiegenden Reaktionen darauf sind positiv (Lacher). In einem anderen Video wird gezeigt, wie Kinder zu Weihnachten Müll geschenkt bekommen. Auch das wird gerne angeschaut – 52 Millionen Aufrufe. Oder eine Werbesendung zeigt ein Kind, das schreit, weil es etwas haben möchte. Die Sendung empfiehlt: »Use condoms!«
Was werden die Kinder später über sich denken, deren Mütter öffentlich verlauten lassen, wie sehr sie die Mutterschaft bedauern mit Sätzen wie »Es ist der Albtraum meines Lebens!«?
Vielleicht scheinen Ihnen diese Zustandsbilder zu pessimistisch, zu übertrieben und eher Ausnahmen zu sein. Aber die Beispiele zeigen eine Tendenz, die bedenklich ist und deshalb ins Bewusstsein gerückt werden muss. Immerhin berichtet ein hoher Prozentsatz aller Schulkinder, dass sie Beschämung erlebt haben oder sogar von ihr betroffen waren. Wer beschämt wird, findet nicht die doof, die in ihm Scham hevorrufen, sondern vor allem sich selbst. Wer immer klein gehalten wird, hält sich für wertlos und schreibt das Unvermögen sich selbst zu. Oft zieht derjenige sich dann aus dem sozialen Zusammenhang zurück, verharrt in Schweigen und gibt möglichst wenig von sich preis, weil er bei sich wenig Liebenswertes entdecken kann. Und vor allem, wer sich nicht selbst wertschätzt, kann auch das Positive beim anderen kaum sehen. Denn die Verachtung, die man für sich selbst empfindet, wird auf Andere projiziert. Was im Extremfall als Reaktion zur Schamabwehr bleibt, sind Arroganz, Größenphantasien, Verachtung von anderen. Es erzeugt dissoziales Verhalten.
Wir Eltern, Pädagogen und Therapeuten haben die Aufgabe, die Kinderseelen zu schützen, wir müssen daher wachsam bleiben und dürfen Demütigungen und Verletzungen der Menschenwürde nicht dulden.
Das Gespräch führte Ariane Eichenberg.
Gabriele Pohl ist Diplompädagogin und Psychotherapeutin, Mitbegründerin und pädagogische Leiterin von ZWISCHENRAUM für lebensnahes Lernen, für Individualentwicklung und seelische Gesundung, einem intensiv-pädagogischen timeout-Projekt für Kinder und Jugendliche (www.zwischenraum-mannheim.de)
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