Ein sinn-voller Start in die Welt
In der Waldorfpädagogik der frühen Kindheit spielt die Entfaltung der Sinne eine überragende Rolle. Warum? Nur über sie lernt der Mensch seinen eigenen Körper und die Beschaffenheit der Welt kennen. Nur über die Sinne kommt das Kind auf der Erde an.
Ankommen
Die Geburt bedeutet für den Menschen einen Übertritt in eine ungewohnte Welt. Schwerkraft, Druck, Kälte, Hunger, Helligkeit und Gerüche waren während der vorangegangenen Monate für den Embryo zunächst nicht erlebbar. Behagliche Wärme, Körpergeräusche wie das Pulsieren der Arterien sowie Schwerelosigkeit im Fruchtwasser waren die vorherrschenden Eindrücke im Mutterleib. Mehr oder weniger auf einen Schlag findet sich das Neugeborene nun in einer anders beschaffenen Welt wieder, die es sich in der Folge mühsam anverwandeln muss. Dabei lernt sein Auge das vollendete Sehen erst durch das Licht, das zu ihm dringt, und das Ohr das differenzierte Hören erst durch den Klang, der zu ihm schallt. Die Sinnesorgane wurden während der Schwangerschaft nur so weit ausgebildet, dass sie ab der Geburt durch ihren Gebrauch ihrer eigentlichen Bestimmung – nämlich dem Kennenlernen der Welt – dienen können.
Findet dieser Gebrauch nicht statt, verkümmern die Anlagen. Kommt es hingegen zu einer Reizüberflutung, so ist die kindliche Seele mit der Integration der sinnlichen Reize in den bisherigen Erfahrungshorizont überfordert. Deshalb ist die bewusste Gestaltung der sinnlichen Umgebung von eminenter pädagogischer Bedeutung. Und so wird es verständlich, warum Säuglinge keine baumelnden Tierchen über dem Kinderwagen, keine Hintergrundmusik und keinen Weichspülerduft brauchen: Sie sind bereits ausreichend gefordert mit den Erlebnissen des Drucks beim Liegen, der Reibung durch Kleidung, der anstoßenden Bewegungen der eigenen Gliedmaßen, dem Schmecken der Muttermilch, der teils schmerzenden Verdauungstätigkeit sowie dem Riechen der Familienmitglieder. Dieses erste Ankommen im Körper über die basalen Sinneserlebnisse benötigt einen besonderen Schutz. Diesen zu gewähren, ist die erste Erziehungsaufgabe. Mit anderen Worten: liebevolle Umhüllung!
Mehr als fünf Sinne
Es gibt neben den bekannten fünf Sinnen – Sehen, Hören, Riechen, Schmecken und Tasten – noch weitere Sinne, die allgemein anerkannt sind und denen eindeutige Sinnesorgane zugeordnet werden: Gleichgewichtssinn (vestibulärer Sinn), Temperatursinn (Thermorezeption), Wahrnehmung von Beweglichkeit und Stellung des Körpers (Propriozeption) sowie Wahrnehmung der inneren Organtätigkeit (Viszerozeption oder Enterozeption). Außerdem ist die Schmerzwahrnehmung (Nozizeption) eine an andere Nervenenden gebundene zusätzliche Sinneswahrnehmung, die zu besonders starken Wahrnehmungen wie Tasten oder Temperatur noch hinzukommen kann. Diese verschiedenen Sinnestätigkeiten differenziert auszubilden und zu pflegen, ist die elementarste Form der Bildung. Die Mannigfaltigkeit der Welt – und damit auch des eigenen Körpers – kann nur dadurch dem Menschen erscheinen. Treffend werden daher die Sinne mitunter auch als »Tore der Seele« zur Welt beschrieben.
Sinnespflege
Die Pflege der Sinne ist sowohl im Konzept der Waldorfkrippen und Waldorfkindergärten fest verankert als auch in deren praktischer Arbeit. Sie ist einer der wichtigsten theoretischen Grundpfeiler der täglichen Praxis: Deshalb gibt es natürliche Spielmaterialien, wird gebacken und sind die Wände lasiert. Die Gestaltung der Umgebung, alle Tätigkeiten, der tägliche Kontakt mit der Natur, die Medienabstinenz sowie der Verzicht auf sinnlichkeitsfreies explizites Lernen dienen letztlich der Entfaltung aller Sinne. Das Kennenlernen der Welt und des eigenen Körpers wird besonders hervorgehoben. Zwei Beispiele:
• Brote schmieren: Es wird das Frühstück vorbereitet. Brotscheiben, Butter, Kräutersalz und Messer liegen bereit. Einige Kinder helfen mit, andere spielen.
Den Mithelfenden bieten das unebene Holzbrett, das eher kalte Messer, die weiche Butter und das körnige Salz eine differenzierte Welterfahrung. Die Bewegung des Streichens mit dem Messer und das Streuen des Kräutersalzes auf das Butterbrot machen die feinmotorischen Bewegungen und damit das eigene Handlungsvermögen erlebbar. Das Naschen nach getaner Arbeit bereitet Genuss und vermittelt Behaglichkeit. Ein Messer auf dem Teller klingt anders als ein Messer auf einem Brett. Viel Butter sieht anders aus als wenig Butter.
• Laub rechen: Die Kinder sind im Garten. Es ist Ende Oktober und es wird Laub zusammengeharkt. Die mithelfenden Kinder erleben ihre eigenen großräumigen Bewegungen in den Armen, den Widerstand des etwas unhandlichen Rechens und die Kühle an den Händen. Das Laub sieht sehr unterschiedlich aus. Einige Kinder bücken sich immer wieder, um einzelne Ahornblätter zu bestaunen. Sie sind nass und kalt. Der anwachsende Laubhaufen hat einen spezifischen Herbstgeruch. Nach zehn Minuten macht ein Kind eine Pause: Die Reibung am Holzstiel des Rechens wurde unangenehm. Ein anderes Kind nimmt unbemerkt ein Blatt in den Mund und leckt es ab. Das Laub am Ende mit der Schubkarre zum Komposthaufen zu fahren ist anstrengend, aber lustig.
In beiden Beispielen kommt keine Erklärung vor, warum jetzt wann was gemacht wird. Es wird einfach über die Tat die umgebende Welt sowie das eigene körperliche Vermögen sinnlich erkundet. Die Erfahrungen werden hier nicht als Bildungsanlass genommen, um daran Begriffe zu bilden, sondern die zusammengehörenden kongruenten Erfahrungen sind bereits das angestrebte Bildungsziel.
Leibbezogenes Bildungsverständnis
Die Waldorfpädagogik der frühen Kindheit setzt damit auf ein Bildungsverständnis, das die leibliche Entwicklung in den Vordergrund rückt und Bildung zu allererst als Leib-Bildung oder als Aus-Bildung leiblicher Werkzeuge für die spätere bewusste Auseinandersetzung mit der Welt versteht. Je breiter die Erfahrungsgrundlage durch wiederholte, unreflektierte Sinneserfahrungen, desto sicherer steht das Fundament, auf dem dann Vorstellungstätigkeit, Gefühlsleben und Willenstätigkeit aufbauen. Auch wenn sich die Waldorfpädagogik an einigen Stellen von wissenschaftlichen Strömungen absetzt, so muss doch festgehalten werden, dass die hohe Bedeutung der sogenannten Primärerfahrungen im Einklang mit der aktuellen Hirnforschung steht.
Unmittelbare und unvermittelte sinnliche Erfahrungen, die nicht sofort durch Einmischung von »schlauen« Erwachsenen und deren Bildungsabsichten gehemmt werden, bieten einen Erfahrungsreichtum, Lebensfreude und bilden ein positives Verhältnis zur Sinnlichkeit und zum Leib.
Die Schlüsselbegriffe aus der psychologischen und pädagogischen Forschung für Lernbereitschaft und für einen gesunden und freudigen Weltzugang lauten: Selbstwirksamkeit, intrinsische Motivation, Kompetenz, Autonomie, Zugehörigkeit, Partizipation und Kohärenz. Sie alle werden gestärkt durch sinnliche Primärerfahrungen, die nicht reizüberflutend sind, und werden geschwächt durch intellektuelle Nachfragen bildungsaffiner Erwachsener, die den unmittelbaren Zusammenhang mit der Welt beim Kontakt mit der nassen Pfütze oder dem Turm aus Holzklötzen eigentlich immer nur stören. Die überflüssige hinzutretende Erklärung, was die gegenwärtige sinnliche Erfahrung »eigentlich« bedeutet, macht unsicher, fühlt sich nach Inkompetenz an, schwächt den Erkundungswillen, unterbricht das Kohärenzerleben und macht abhängig vom Kommentar von neunmalklugen Autoritäten.
Rudolf Steiner zu den Sinnen
Neben den vielen Hinweisen und Impulsen, die Rudolf Steiner für die verschiedenen Lebensbereiche gegeben hat, kann etwas in den Hintergrund geraten, dass er der Betrachtung der menschlichen Sinne eine überragende Bedeutung beigemessen hat. Um den Menschen ganzheitlich verstehen zu können, sei eine Beschäftigung mit den Sinnen »unser erstes Kapitel«, wie Steiner es einmal formulierte. Dabei unterstreicht er an mehreren Stellen den Zusammenhang zwischen dem Ich als dem menschlichen Wesenskern und den Sinnesbezirken des menschlichen Körpers.
Der geistige Pol des Menschen steht seiner Auffassung nach in inniger Korrespondenz mit der materiellen Seite.
Über die Sinnlichkeit verkörpert sich letztlich das Selbst, was bedeutet, dass die Person, die im Leib als ihrer Hülle lebt, von den Wahrnehmungsmöglichkeiten der Sinne abhängig ist. Im pädagogischen Zusammenhang wird dann bei Steiner ganz besonders der Bezug zu den ersten Lebensjahren deutlich. Die besondere Bedeutung einer gut gestalteten sinnlichen Umgebung liege vor allem darin, dass aufgrund mangelnder Abgegrenztheit des Kleinkindes alles ungefiltert in den frühkindlichen Organismus hineinriesele und hier seine Spuren hinterlasse.
Bekannt geworden ist in diesem Zusammenhang der Ausdruck, das Kind sei »ganz Sinnesorgan«.
Das Konzept der zwölf Sinne
Die Besonderheit bei der Waldorfpädagogik ist nun, dass sie einen streng phänomenologischen Zugang zu den verschiedenen sinnlichen Erfahrungsfeldern der menschlichen Seele verfolgt, der vom Standpunkt des eigenen Erlebens zu einem Sinneskonzept gelangt, das zwölf Sinne unterscheidet.
Es wird hier nicht von Nervenenden oder sichtbaren Sinnesorganen das Bestehen eines Sinnes abgeleitet, sondern allein das seelische Erlebnis unterschiedlicher Wahrnehmungsfelder in den Blick genommen. Diese Beobachtung möglicher Erlebnisse führt dann neben den oben beschriebenen neun anerkannten Sinnen (plus dem Sonderfall der Schmerzempfindung) zur Entdeckung eines Sprachsinns, der sich offensichtlich von einem reinen Geräusch- oder Klangerlebnis unterscheidet.
Sie kann zudem einen Gedankensinn finden, der erleben lässt, was mit einem angedeuteten Wort oder einer Geste inhaltlich gemeint ist.
Und sie findet das Erlebnis eines Ich-Sinns, der ein anderes Ich als Ich empfinden lässt, das mit »Du« angesprochen werden kann, und damit als eine individuelle Person mit einem unverkennbaren Stil, die weder Tier noch Sache ist.
Die zwölf phänomenologisch begründeten Wahrnehmungsfelder sind demnach: Tastsinn, Lebenssinn, Bewegungssinn, Gleichgewichtssinn, Wärmesinn, Geruchssinn, Geschmackssinn, Sehsinn, Hörsinn, Sprachsinn, Gedankensinn, Ich-Sinn.
Die vier basalen Sinne
Für die vorschulische Waldorfpädagogik sind Tastsinn, Lebenssinn, Bewegungssinn und Gleichgewichtssinn von besonderer Bedeutung. Diese vier Erfahrungsfelder, die in unterschiedlichen Darstellungen als »Willenssinne«, als »untere«, »innere« oder »basale« Sinne bezeichnet werden, ermöglichen Erlebnisse, die den eigenen Körper betreffen. Mit Geruch, Geschmack, Klang nehmen wir immer etwas von der Beschaffenheit der äußeren Welt wahr. Beim Tasten, bei der Wahrnehmung der inneren Befindlichkeit, bei der Bewegungswahrnehmung und bei der Gleichgewichtswahrnehmung nehmen wir hingegen unseren eigenen Leib wahr. Es kann gar nicht stark genug auf die Bedeutung dieser Erfahrungsfelder verwiesen werden, weil zunächst nur sie es sind, welche die Verankerung der Person im Leib ermöglichen. Jeglicher Medienkonsum, der nur Auge und Ohr anspricht, steht diesem Heimischwerden im eigenen Leib entgegen, weil er die anderen Erfahrungsfelder in sich zusammenfallen lässt. Es gehört daher zum hervorstechendsten Merkmal jeder Waldorfkrippe und jedes Waldorfkindergartens genau diese vier basalen Erfahrungsfelder als Fundament für jede weitere Welterfahrung besonders zu pflegen. Beispiele:
• Tastsinn: unterschiedliche, vor allem natürliche Materialien mit entgegenkommender Haptik, wie Wolle, Holz und Tannenzapfen, wenig glatt abweisender Kunststoff, dafür Holzmobiliar, Tongeschirr, Spielmöglichkeiten mit weichen und harten Gegenständen, Kontakt zur Natur.
• Lebenssinn: Erlebnisse von Behaglichkeit durch Zuwendung, Körperkontakt, ästhetische Raumanordnung, das Erlebnis von Sättigung nach Hunger, gesunde Nahrung, Sicherheit gebende rhythmische Abläufe, Vermeidung von Überforderungen.
• Bewegungssinn: Möglichkeiten für differenzierte grob- und feinmotorische Bewegungen, Hinfallen, selber Aufstehen, Klettern, Gartenarbeit, Abwaschen, Sägen, Weben, Fingerspiele, Kreistänze, Eurythmie.
• Gleichgewichtssinn: Balancieren, Wippen, Schaukeln, auf einem Bein hüpfen, Seilspringen, Stelzenlaufen.
Dabei folgt die Pflege der basalen Wahrnehmungen für eine kräftige Verkörperung im Leib noch zusätzlich dem Gedanken, dass aus gut ausgebildeten basalen Sinnen eine seelische Sicherheit hervorgeht, die in einem gesunden Körpergefühl ihr Fundament hat: Weiß ich körperlich um meine Grenze und die Beschaffenheit der Welt, so ist dies die leibliche Voraussetzung für eine gesunde seelische Ausgewogenheit sowie Autonomie- und Empathiefähigkeit. Weiß ich um meine innere Befindlichkeit – ob ich müde, kraftvoll, krank, satt oder durstig bin –, so ist die Basis geschaffen für die innere Formulierung seelischer oder geistiger Bedürfnisse; man lernt zu spüren, wie es einem selbst und anderen geht und was gebraucht wird.
Weiß ich um die eigene Beweglichkeit und die Stellung meiner Glieder, so ist dies die leibliche Grundlage für Sicherheit, seelische Beweglichkeit und situationsangemessene Flexibilität. Und weiß ich um meine Lage im Raum als aufrechter Mensch zwischen oben-unten, rechts-links und vorne-hinten, so ist dies die Grundlage für das seelische Erlebnis, als freier Geist in der Welt zu stehen.
Reiche Kenntnis der Welt
Bezieht man noch Überlegungen zu einem vorgeburtlichen Dasein des Menschen mit ein, so könnte man zusammenfassend formulieren: Durch Schwangerschaft und Geburt entwickelt sich ein Körper, der es dem Menschen ermöglicht, sich aus einem ausgebreiteten Leben in der geistigen Welt zu einem auf einen Leib konzentrierten irdischen Leben zusammenzuziehen, das sich nun in der Welt der sinnlichen Erscheinungen vollzieht. Aus dieser Anschauung vom Menschen lässt sich der Gedanke von einer Korrespondenz von Ich und Leib mit seinen Sinnen entwickeln. Das materiell verfasste irdische Leben ist für die inkarnierte Persönlichkeit umso reicher und wirklichkeitsgesättigter, je differenzierter die Wahrnehmungen der gegenständlichen Welt sein können.
Insofern ist die Förderung der Entfaltung der Sinne, insbesondere der basalen Sinne, die erste Voraussetzung für ein gelingendes Ankommen auf der Erde, für seelische Sicherheit und eine ganzheitliche Bildung des Menschen, die auf einer reichen Kenntnis der umgebenden Welt fußt.
Zum Autor: Philipp Gelitz, Master in Pädagogische Praxisforschung (M.Ed.), staatlich anerkannter Erzieher und Waldorferzieher. Er arbeitet im Waldorfkindergarten des Bildungshauses Freie Waldorfschule Kassel sowie als Gastdozent und publiziert zu Themen der Waldorfpädagogik der frühen Kindheit. Stipendiat des Graduiertenkollegs Waldorfpädagogik an der Alanus Hochschule.
Literatur:
W.-M. Auer: Sinnes-Welten, München 2007 | M.-L. Compani, P. Lang (Hrsg.): Waldorfkindergarten heute – Eine Einführung, Stuttgart 2015 | P. Gelitz: Frühe Kindheit verstehen, Stuttgart 2017 | Chr. Lindenberg (Hrsg.): Rudolf Steiner. Themen aus dem Gesamtwerk 3. Zur Sinneslehre, Stuttgart 1994 | A. Soesman: Die zwölf Sinne, Stuttgart 2007 | S. Suggate: Waldorf, Berlin 2015 | R. Steiner: Anthroposophie. Psychosophie. Pneumatosophie, GA 115, Dornach 2001 | Ders.: Anthroposophie – ein Fragment, GA 45, Dornach 2009 | Ders.: Das Rätsel des Menschen, GA 170, Dornach 1992 | Ders.: Die Methodik des Lehrens, GA 308, Dornach 1986 | A. Wiehl, W.-M. Auer (Hrsg.): Kindheit in der Waldorfpädagogik, Weinheim/ Basel 2019
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