Eltern-Sein ist eine Aufgabe – Geschwister-Sein auch
Sicher haben viele Eltern in der Zeit des Lockdowns reichlich Gelegenheit gehabt, die Beziehungen zwischen Geschwistern intensiver zu erleben. Möglicherweise war aber für die Beobachtung zu wenig Ruhe – man war wohl immer wieder aufgerufen, zwischen streitenden Geschwistern zu schlichten, wodurch eine »Beobachtungswarte« nicht leicht einzuhalten war. Beobachtung ist außerdem erst dann effektiv, wenn klar ist, was es zu beobachten gilt.
Hinweis: Der Artikel erschien im Winterheft 2020 der Zeitschrift »Frühe Kindheit«. Das Heft können Sie hier bestellen. Hefte, die älter als ein Jahr sind, stehen in unserem Archiv zum Download für Sie bereit.
Spätestens wenn das zweite Kind kommt, wahrscheinlich aber schon während der Schwangerschaft, nötigt das Erstgeborene die Mutter, sich Gedanken über das Verhältnis dieses kleinen Wesens, das bisher Prinz oder Prinzessin gewesen ist, zu einem noch nicht einmal im Charakter erfassbaren Geschwister zu machen. Kommt kein Geschwister, drängt sich die Frage auf – oder kommt gar gezielt vom Kind – ob es gut ist, das Kind in der »Geschwister-Einsamkeit« zu belassen. Kann man als Eltern, oder durch die sozialen Kontakte den Geschwisterbezug ersetzen? Gerade heute ist es wichtig, dieser Frage genauer nachzugehen. Denn leicht werden die Eltern von der Rückkehr in die »Normalität« des Arbeitslebens überrumpelt. Allzu schnelle Kontakte in der Krippe oder bei Tagesmüttern täuschen gleichwertige Sozialkontakte vor.
Und wie ist es gar, wenn das Einzelkind, oder auch eine »angefangene« Geschwisterreihe plötzlich mit Halb- und neuen Patchwork-Geschwistern konfrontiert wird? Denn die Merkmale der Stellung in der Familie haben nichts mit Intelligenz, auch nicht unmittelbar mit psychologischen Phänomenen etwas zu tun, sondern weisen auf soziale Verhältnisse und soziale Verhaltensweisen hin.
Karl König, der ausführlich zu der Geschwisterfolge geforscht hat (Brüder und Schwestern. Geschwister-folge als Schicksal), erkannte, dass es hier vier Grundformen gibt: Das Einzelkind ist etwas sehr anderes als ein erstes Kind mit weiteren Geschwistern; dann gibt es die Situation eines zweiten und dritten Kindes. Danach wiederholen sich diese Grund-formen wieder, oft mit einer gewissen Verstärkung: ein viertes Kind ist wieder wie ein erstes, nur manchmal sogar ausgeprägter!
Es kann also sein, dass zum Beispiel beim vierten Kind die Tendenz – um die negative Seite zu betrachten –, über andere Herrschaft auszuüben, zunimmt.
Das Allgemeine und das Individuelle
Natürlich spielt es eine Rolle, ob das erste Kind ein Mädchen, das zweite ein Junge ist, auch wie viele Jahre zwischen beiden liegen; denn wenn ein zweites Kind erst zehn Jahre nach dem ersten kommt, ist es in mancher Hinsicht wieder ein erstes. Und so gibt es unendliche Varianten, die jede Situation zu einer einmaligen macht.
Doch das Allgemeine im Speziellen zu entdecken, ist sehr hilfreich; das Spezielle im Allgemeinen zu fördern auch. Vor allem spielt es eine Rolle, wie Eltern diese Tendenzen wahrnehmen und mit ihnen umgehen lernen – es gibt Notwendigkeiten des Ausgleichens, der Korrektur, der liebenden Begleitung. Denn es handelt sich um die Gestalt der Familie, nicht nur um Eigenheiten eines einzelnen Kindes.
Karl König fasst seine Beobachtungen, die von gründlicher Forschung unterlegt sind, sehr anschaulich zusammen: Das erste Kind sei ein »Hüter der Vergangenheit«; das zweite lebe besonders in der Gegenwart und sei ein Künstler, das dritte ein »Bahnbrecher des Zukünftigen«, daher oft besonders in Gefahr. König erinnert uns aber auch daran, dass es ein größeres Bild gibt, denn sie sind ja alle werdende Menschen, die ihre verschiedenartigen Aufgaben im Kontext der Gesellschaft haben werden: »Alle drei sind notwendig für das gewaltige Maschenwerk menschheitlicher Existenz.« Denn nicht nur die Familie braucht das Zusammenspiel der unterschiedlichen »Farben«; diese Aufgabe – vielleicht wird sie auch zu einer Begabung – trägt das Kind sein ganzes weiteres Leben mit sich. Es handelt sich also hier nicht darum, wie man Ruhe und Frieden in der Familie herstellt (obwohl das durchaus auch ein wünschenswerter Zwischenerfolg sein könnte), sondern so zu erziehen, dass das, was ein Kind als Potenzial in sich trägt, sich entfalten kann.
Dann wird das, was dem Kind als »Schicksalspaket« mitgegeben ist, nicht nur für es selbst, sondern auch für den Umkreis und für die Gesellschaft fruchtbringend sein. Kindererziehung ist immer die Bildung der Gesellschaft von morgen, und es wird sicher in der Zukunft besonders auf soziale Fähigkeiten ankommen.
Diese Fähigkeiten hängen stark davon ab, wie der Mensch mit seinem eigenen Schicksal, mit seinen eigenen Anlagen, Fähigkeiten und Schwächen zurechtkommt – und mit denen seiner Mitmenschen. Im sozialen Ganzen ergänzt man sich auf einer neuen Ebene, so, wie das innerhalb der Familie geübt wurde.
Früh übt sich …
Welche Aufgaben bekommt man durch die Stellung in der Familie vom Leben gestellt?
Das erste Kind kennt die Welt der Familie schon und steht wie »dazwischen« – zwischen Eltern und den weiteren Geschwistern. Das wird übrigens deutlicher, je mehr Geschwister noch kommen. Je nachdem, wie das »Dazwischen-Sein« gelingt, kann ein erstes Kind ein Vermittler sein, oder aber auch eine Trennwand. Früher war es ja in Großfamilien üblich, dass das älteste Kind für die Erziehung der jüngeren Geschwister eingesetzt wurde. Das konnte gut gehen, konnte aber auch eine Tortur für die kleineren werden. Und eine ganz sorgenfreie Kindheit ist es für die älteren oft nicht, weil immer das Bewusstsein und die Sorge für die anderen da ist. Je nach Temperament und Situation wird das älteste Kind natürlich verschieden damit umgehen, mehr oder weniger Hilfe brauchen. Unsere Erste war mit zwei jüngeren Geschwistern nicht zufrieden, sondern ging in der Nachbarschaft umher und sammelte Anwärter für ihren »Kindergarten«. (Wir hatten einen großen Garten und so musste er mit Kindern gefüllt werden.) Inzwischen ist sie eine von den Kindern geschätzte Schulsozialarbeiterin. Donald Trump ist das vierte von fünf Kindern – die Verstärkung der Tendenz eines ersten Kindes ist hier im Übermaß zu beobachten. (Über die Auswirkung der frühkindlichen Erziehung will ich hier nichts Weiteres aussagen.) Jeanne d’Arc und Dag Hammarskjöld sind auch beide vierte Kinder gewesen. Wilhelm von Humboldt war der ältere von zwei Brüdern. Und so könnte man die Beispiele beliebig fortsetzen.
Das zweite Kind lebt in der Gegenwart und eine größere Leichtigkeit, innere Beweglichkeit oder auch ein künstlerisches Element tritt hinzu. Berühmte Beispiele sind Martin Luther King, Barack Obama (der vier ältere Halbgeschwister und vier jüngere hat, also als fünftes Kind wieder ein zweites ist).
Käthe Kollwitz, als zweites Kind, war Künstlerin, aber sehr stark Gegenwartsmensch.
Das dritte Kind hat es nicht leicht – häufig sind es Visionäre, die aber oft die eigenen Ziele nicht erreichen können: der bedeutende Sozialreformer und unbelehrbare Idealist Robert Owen ist das beste Beispiel. Die jüngere Schwester von Yehudi Menhuin, Yaltah, war ein typisches drittes Kind im Schatten des Bruders; obwohl auch eine begabte Musikerin, hatte sie es im Leben recht schwer. Annegret Kramp-Karrenbauer ist das sechste Kind – also sozusagen das zweite dritte Kind!
Und heute?
Sind die Aussagen aus der Forschung von Karl König in dem Buch Brüder und Schwestern noch aktuell? Ist Familie heute so zu fassen, wie vor 60 Jahren?
Natürlich hat sich sehr viel geändert; dennoch hat König dazu geforscht und publiziert, gerade weil er sah, wie stark die Gesellschaft, die Werte und die Gestalt der Familie sich ändern. Meine Erfahrung ist, dass es um so wichtiger ist, die oben angedeuteten Grundtendenzen, die mit dem Einzelkind, dem ersten, zweiten oder dritten Kind in der Familie zu tun haben, gründlich kennenzulernen, gerade weil heute alles so anders und schwerer zu identifizieren ist. Wenn in der Patchworkfamilie das Kind plötzlich seine Stellung einbüßt, weil ein anderes hinzukommt, dann ist es eben nicht nur eine Frage der Andersartigkeit durch die bisherigen anderen Familiengewohnheiten, nicht nur eine Frage, »ob man sich versteht«, sondern es ist eine tiefgreifende Änderung in der Aufgabe eingetreten, die ein erstes oder zweites Kind hat. Auch dafür sollten die Eltern Verständnis aufbringen können. Ich kann versprechen – es ist eine spannende Perspektive in jeder Familie!
Man kann zum Beispiel die wichtige Stellung und Haltung des ersten Kindes trotzdem ehren und unterstützen, auch wenn ein älteres (Halb)Geschwister hinzugekommen ist. Ein Kind will auch hierin ernstgenommen werden.
Wir wissen alle aus eigener Erfahrung, wie es ist, Geschwister zu haben oder eben keine; auch wenn wir als Kind nicht bemerkt haben, dass bestimmte Gesetzmäßigkeiten vorliegen. Wir wissen aber vielleicht aus dem eigenen Erleben, welche Rolle Eltern spielen können, wenn sie mit den Geschwisterverhältnissen und Familienspannungen bewusst umgehen – oder nicht. Viele werden wissen, wie sich das Verhältnis zwischen Geschwistern mit der Zeit ändern kann. Zum Glück findet man im erwachsenen Alter plötzlich eine schöne Beziehung zu der älteren Schwester, die man jahrelang nur geärgert hat! Das heißt aber auch, dass diese Verhältnisse handhabbar und lenkbar sind – nicht fest und zwingend.
»Eine durchaus religiöse Einstellung«
Karl König hat sein Buch damals nicht einem selbsterklärt atheistischen Verlag, der sich beworben hatte, in die Hände geben wollen. Er schrieb, es habe eine »durchaus religiöse Einstellung«, und betonte, das Buch sei »dem Christentum ganz verschrieben«. Wenn man es liest, wird man aber vergeblich Bezüge zur Religion in den Texten suchen. Grenzte König sich nur gegen die atheistische und materialistische Seelenkunde seiner Zeit ab? Dies sicher auch, aber auf keinen Fall nur! Denn König geht es darum, zu beschreiben, wie jeder Mensch durch die Stellung in der Familie eine Schicksalsaufgabe aufnimmt, die jeder auf seine Weise erfüllen lernt. Schicksal ist Aufgabe, nicht eine Festlegung! Und gerade dieser Umgang mit dem eigenen Schicksal und dem des anderen Menschen macht das Moderne aus; die »christliche« Auffassung des Schicksals als Gewebe von Gesetzmäßigkeiten, mit dem der Mensch frei umgehen kann. Hinzu kommt, dass für den begleitenden Erwachsenen eine wesentliche pädagogische Haltung aus der Wahrnehmung dieser Schicksalsaufgaben entstehen kann – nämlich die der Ehrfurcht. Eine religiöse Haltung, in der man sich seiner eigenen Verantwortung in der Begleitung und Führung eines Menschenschicksals bewusst wird. Zunächst zeigen sich zwar allgemeine Tendenzen, die mit kindlichen Entwicklungsstufen und eben familienbedingten sozialen Verhältnissen zu tun haben – schließlich ist aber doch jedes Schicksal ein Unikat, individuell und unverwechselbar – und darf es auch sein; oder besser – es ist unsere Pflicht als Eltern oder Erzieher, diesem Individuellen immer mehr zur Erscheinung zu verhelfen.
Das Schicksal des Menschen wird mit dem fortschreitenden Wandel der Gesellschaft ja generell nicht leichter, sondern in jeder Hinsicht komplizierter, doch viel kann in der Kindheit vorbereitet werden, damit im Laufe des Lebens das eigene Schicksal erfühlt, ertragen, verarbeitet und verwandelt werden kann. Dies beginnt im Leben des Menschen sehr früh – mit dem Bezug zu den Geschwistern.
Zum Autor: Richard Steel wurde in Oxford, England geboren. Nach dem Studium der Sprachwissenschaften absolvierte er das Camphill Seminar für Heilpädagogik am Bodensee, wo er anschließend mit Familie mit Seelenpflege-bedürftigen Kindern und Jugendlichen lebte und arbeitete. Seit 2008 ist er für den Nachlass Karl Königs mit verantwortlich, gibt die Karl König Werkausgabe (zweisprachig) heraus und hat eigene Dichtung publiziert. Vortrags- und Seminartätigkeit zu Königs Leben und Werk und zu Kaspar Hauser; Geschäftsführer des Karl König Instituts für Kunst, Wissenschaft und soziales Leben in Berlin.
Literatur: K. König: Brüder und Schwestern. Geschwisterfolge als Schicksal, Stuttgart 2013. (Im Februar 2021 erscheint die 4. Auflage)
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